Zur Wahl: HISTORIA REPETITIA EST

13. September 2013

Königssee

Der Königssee, vom Obersalzberg aus gesehen

BERCHTESGADEN. – Wahnsinn im engeren Sinne bedeutet, sich den Sinn für den Wahn ringsumher erhalten zu haben. Dabei geraten die eigenen ästhetisch-moralischen Maßstäbe im Angesicht des realpolitischen Totalitarismus in Fragwürdigkeit und Mißkredit: Mit wem soll man noch ein redliches Wort reden, wenn nicht nur die stets irrige Mehrheit, sondern auch gute Bekannte, Menschen mit Kultur und Urteilsvermögen, plötzlich zu differenzieren beginnen und ein gepflegtes »Einerseits-Andererseits« ob der allgemeinen Lage auf den Lippen führen? Zwar, so geben sie einem jederzeit zu, sei das herrschende Berliner Regime bräsig, lächerlich, peinlich, hundsföttisch und offensichtlich korrupt, auch verlogen bis in’s Mark. Nicht drei Wochen hätte es sich nach allgemeiner Menschenvernunft an jener Macht halten können sollen dürfen, die es vor wenigen Jahren erst halbwegs demokratisch und dann durch konsequente Machtergreifung errang. So dachte man damals. – Tatsächlich wurde jenes Regime sogar wiedergewählt.

Die Tagebücher, Emigrationen, Selbstmorde der damaligen Endzeitgänger warnen eindringlich: Der Zeitraum zwischen Fassungs- und Ausweglosigkeit ist winzig. Fast allen Volksgenossen aber ist die üble geschichtliche Erfahrung kein Zeugnis, keinen Pfifferling wert. Sie nehmen die beinahe lückenlose Überwachung ihrer Lebenswege, die Suspendierung der Grundrechte, die Zermürbung parlamentarischer Kultur, die Verblödung der politischen Sprache, wohl auch die Deportation einiger Schmutzfinken gern in Kauf, solange der Rubel rollt, der Pöbel klar markiert und die »Fleischtöpfe« (Brecht) voll sind. Denn Deutschland ist stark und soll es bleiben!

Das Kapital prosperiert, und damit ist alles zum Besten gewendet. Deutschlands Metallindustrie kann vor Kraft nicht laufen: prächtige Automobile, gewaltige Anlagen, potente Waffensysteme verlassen die süddeutschen Fabriken in Richtung aller Herren Länder. Den ganzen Kontinent hat das Vaterland mit Zuckerbrot und Peitsche in Abhängigkeit, Knechtschaft und/oder Tributpflicht gebracht, seiner allerheiligsten Sendung gemäß. – Endlich hat das Regime Deutschland den ihm gebührenden Respekt auf der Weltbühne wiederverschafft: Der ganze Globus lechzt nach deutschem Wesen! Dazu herrscht beinahe Vollbeschäftigung, auch weil der Staat mit großgestischem Weitblick immer neue Jahrtausendprojekte (Märchenschlösser, Autobahnen, Flughäfen) ins Werk setzt und die Zwangs- bzw. Leiharbeit fördert. – Wäre man da nicht selbst des Irr- und Schwachsinns feiste Beute, wenn man in solchen fetten Jahren an der Herrschaft mäkelte oder kleinmütig auf der Gültigkeit des Grundgesetzes beharrte? Woher sollte man auch Maßstab und Argument nehmen, um solchen Taumel als fatal, solchen Wohlstand als hohl, solche Entwicklung als katastrophisch zu entlarven, wo doch alle hörbaren Stimmen, die Mietmäuler und Multiplikatoren, die Lümmels von der Presse zumal, täglich stolzer das Gegenteil verkünden? Deutschland ist stark und soll es bleiben.

Menschen in Angst lassen sich besser beherrschen als Menschen in Freiheit. Kontrolle und Normierung sind für die ökonomische und hegemoniale Effizienz des Volkskörpers unumgänglich. Für die wenigen verbleibenden Fragensteller hat man sich die Keule der muselmanischen Terrorbedrohung geschnitzt, eine raffiniert orchestrierte Neuinterpretation der Dolchstoßlegende. Für die in Angst Gesetzten ist das Ausbleiben staatlicher Willkür, das Ausbleiben der Zerstörung ihrer bürgerlichen Existenz, keine verfaßte Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Gnade, für die man der Obrigkeit jederzeit Dank und Opferbereitschaft schuldet. Und es geht uns ja gut, wir werden ja in Ruhe gelassen: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten! – Nach einigen wirren Jahren demokratischer Experimente sind aus Bürgern hierzulande wieder Untertanen geworden, weil fast alle es so wollen, respektive: weil’s ihnen Wurscht ist. Das ist zwar undemokratisch, gerade deshalb aber alternativlos. Und umgekehrt.

Gottseibeiuns

In einem baierischen Berggasthof

Anders als weiland Schicklgruber (und später Frahm) begreift sich die Reichskanzlerin in ihrem politischen Handeln heuer leider nicht als Künstler. Sie hat auch keine Vision, zu deren Erfüllung sie ihr Volk verführen möchte. Sie tut nur, was die Eigentümer des Landes als ihre informellen Vorgesetzten ihr anweisen. Für deren Gier und Kurzsicht kann sie nichts. Sie sorgt für die pünktliche Lieferung der bestellten Gesetze, um die Privatisierung des Landes, und also auch der Politik, endlich abzuschließen. 67 Prozent der Deutschen geben an, Angela Merkel sei »gut für Deutschland« und »kümmere sich um deutsche Interessen«. 79 Prozent der Deutschen halten die Polizei in Deutschland für »sehr vertrauenswürdig«. Insgesamt 146 Prozent der Deutschen also haben Seelenkrebs im Endstadium.

mens sana in campari soda

27. Juli 2013

Kulturforum4_7_2013

Das Jahr durchschreitet seinen energetischen Nullpunkt. Die Barrieren zwischen Innen und Außen sind porös geworden, die dünne Legierung des Verständlichen hat Risse, die Katze liegt apathisch unterm Apfelbaum, kurzum: Die »gedeutete Welt« (Rilke) ist noch kleiner als sonst, der Intellect ist völlig von der Aisthesis getilgt.

Kulturforum3_7_2013

Eine Möglichkeit, das »Sahara-Wochenende« (dt. Wetterdienst) zu überleben, ist die Flucht in die 98°-Sauna einer städtischen Badeanstalt (Menthol-Latschenkiefer-Aufguß!). Es wirkt: nach stundenlangem Kreislaufkneten und Schwallen von Eiswasser kann man sich endlich wieder jener lang entbehrten, belebenden, aller Kultur zum Grunde liegenden Empfindung erinnern: des Frierens.

Kulturforum1_7_2013

Eine andere Möglichkeit ist eine abendliche Excursion zum Kulturforum, dem städtebaulichen Nullpunkt. Während ich dort auf den Beginn des Freilufttangos warte, photographiere ich die Nationalgalerie von Mies van der Rohe. Ganz unerwartet ergeben sich meinem bildlichen Denken dabei mögliche Erklärungen, warum kluge Leute dieses so unbrauchbare wie sinnfreie Museum für einen großen Wurf, gar für einen »Tempel der Moderne« halten: Es ist nicht der schnöde Zweck, der hier zu suchen wäre, sondern die ontisch-optische, rein skulpturale Schönheit. Innen und Außen transzendieren auch hier; kein Intellect, nur Aisthesis. – Ein Ding an sich!

Kulturforum2_7_2013

Zu Hause in Dahlem ist die Nacht etwas frischer, zum Schlafen freilich noch immer zu heiß. Ich trage das Grammophon in den Garten, höre die Tristan-Ouvertüre und zähle Fledermäuse. Noch ehe die Oper abgespielt ist, steigt Aurora hinter der Rostlaube auf. Tag und Nacht, ihrer biblischen Getrenntheit verlustig, sind hier auf einem Bilde zu sehen:

Sommernacht in Dahlem_7.2013

»L’Empire des lumières« (R. Magritte): Elvis und ich

Herr Niebel in Jerusalem

27. Juli 2013

In Vertretung des gemütskranken Guido Westerwelle hält sich der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, zur Zeit zu Geheimverhandlungen in Israel auf. Dabei forderte Niebel erneut ein Ende des jüdischen Siedlungsbaues in Ost-Berlin (Stichwort »Russen-Lofts«). Das Angebot einer Umsiedlung der israelischen Bevölkerung nach Sachsen-Anhalt oder Elsaß-Lothringen sei hingegen endgültig »vom Tisch«. Unser Levante-Korrespondent traf den besorgten Minister gestern bei seiner Ankunft vor der Knesset. Auf die Frage, warum man ihm keinen roten Teppich ausgerollt habe, antwortete er augenzwinkernd: »Teppich? Ich? Vergessen Sie’s!«

Dirk Niebel in Begleitung seiner serbokroatischen Dolmetscherin vor dem israelischen Parlament (© J. Runge)

Die Hütte

22. Mai 2013

Mit einem geborgten schwarzen Automobil kurve ich durch die düsteren Höhen des Südschwarzwaldes. Am frühen Abend parkiere ich das Gefährt auf dem Rathausplatz des Luftkurortes Todtnauberg. Ich schnüre meine ledernen Wanderstiefel, mein Ziel liegt außerhalb. Zu Beginn meiner Wanderung weisen kleine, verschämte Holztäfelchen mit geschnitzter Fraktur den Weg, dann reißen sie ab und verschwinden: Wohin es mich zieht, kann keine Führung sein.

Der Weg nach der Hütte

Der Weg nach der Hütte

In der Dämmerung strebe ich durch Nebel und Niesel, immer höher hinauf, auf einsamem Pfade, von flechten- und moosbehangenem Nadelgehölz umsäumt. Dann, nach einigen Irrläufen und Umwegen, steht sie plötzlich vor mir.

Die Hütte, seitlich

Seitlich-hintere Ansicht der Hütte

Die Hütte, frontal

Die Hütte von vorn

Sicher hat man sie sich größer vorgestellt, doch ist sie in ihrer Bescheidenheit von gravitätisch-gravierender Wesenhaftigkeit. Der Wald waldet um mich, Kühe grasen im Mittelgrund; ehrfürchtig trete ich heran, fertige im letzten Tageslicht einige photographische Aufnahmen und traue mich schließlich sogar, die Holzschindeln ihrer äußeren Wände mit meinen Fingern sacht zu berühren. Wie schön und still sie ist, diese (nach Weimar) bedeutendste Niederlassung des deutschen Geistes! Nur in dieser Abgeschiedenheit konnte er, der letzte seiner Zunft, den Sinn vom Sein bezwingen.

Das Holz der Hütte

Das Holz der Hütte

Ich, die Hütte berührend

Ich, die Hütte berührend

Lagunare

13. Mai 2013

Venezianische Spiegelungen_3.JPG

Venezianische Spiegelungen_1

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Venedig ist eine Schule des Sehens. Spiegelungen, Schatten, Unschärfen; die Kontraste von Enge und Weite, Nah- und Fernsicht, Konkretion und Verblendung verwirren und fordern den Blick. Die Stadt zitiert sich selbst, augenscheinlich schon seit Doge Dandolos Zeiten: Der Topos ist Ort und Klischee zugleich. Jede photographische Aufnahme ist schon gemacht, jedes piktorale Stereotyp schon geprägt und im sonderbar-stetigen, stolzen und eigensinnigen Lokalhistorismus aufgehoben. Und doch begehe ich die hohen schmalen Gäßchen (wie) zum ersten Mal:

Venezianische Nacht_1

Venezianische Nacht_2

Von falschen und richtigen Museen

19. April 2013

Wer erleben will, wie ein Kunstmuseum nicht gemacht sein sollte, der begehe das soeben mit viel Wirbel wiedereröffnete und von der Weltkulturpresse fast unisono in den Himmel emporgejubelte Rijksmuseum zu Amsterdam. Zu besichtigen ist die vorsätzliche (und als Errungenschaft propagandierte) Umwandlung einer der bedeutendsten europäischen Gemälde- und Skulpturengalerien in einen vollgeramschten Krempeltempel.

Es ist allgemein bekannt, daß man etwa in Rembrandts niederländischer Zeitgenossenschaft mit breitstulpigen Stiefeln und, wenn man es sich leisten konnte, mit schwarzem Brokatmantel und feinem Spitzenkragen herumlief. Man führte Krieg mit bronzenen, reich verzierten Kanonen und stolzen Segelschiffen, von denen man für Zuhause kleinteilige Modelle anfertigte. Man aß von edlen Delfter Fayencen und trank aus filigranem Muranoglas; die Kirchen waren angefüllt mit protzigem Silberzeug, in den massigen Hausschränken verwahrte man Bestecke, Schmuck, Kettenhemden und alle sonstigen Arten von Hausrat, wie er Feier- und Alltagsgeschäfte von der Wiege bis zur Bahre eben erfordert und begleitet. All’ dieses Zeug darf sich nun – und eben das wird hier gefeiert – mit den Kunstwerken der Sammlung die hohen Säle und Gelasse des renovierten Museumspalastes an der Singelgracht teilen.

Das Ergebnis ist verheerend: eingeklemmt in einer finsteren Ecke, hinter schlecht entspiegelten, mit Kandelabern und goldenen Monstranzen vollgestopften Vitrinen, neben einigen ausgeblichenen Teppichen, über einer schwülstigen Kommode und unter einem gewaltigen Wappenschild hängt ein Gemälde von Goya, das einzige, das das Haus besitzt. Es scheint keine Fürsprecher mehr zu haben: Alles wurde unternommen, um seine ruhige und dauernde Betrachtung, schon allein seine Auffindung, zu behindern und zu erschweren. So geht es überall: in loser und historisch unpräziser Assoziation werden Realien jedweder Spielart mit Kunstwerken konfrontiert, wobei deren sinnliche und gedankliche Aufnahme schon deswegen leidet, weil man ob der erdrückenden Vielfalt der Antiquitäten und ihrem penetranten und bräsigen Herumstehen ab dem dritten Raum in einen nervösen, oberflächlichen und orientierungslosen Rezeptionshabitus verfällt, der durch die auratische Juwelierbeleuchtung noch verstärkt wird. Immer gibt es hier oder dort noch etwas zu sehen, ein kurioses Reliquienkästchen, ein blutbeflecktes Leinenhemd, einen geschnitzten Totenkopf, und immer wieder Teller, Tassen und Töpfe. In keinem anderen Museum habe ich meine Aufnahmefähigkeit schon nach wenigen Stunden derart erschöpft gefunden: Alles hier ist Fülle und Leere, Anhäufung und Sinnlosigkeit zugleich. Anders gesagt: Wer dieses Museum lobt, der muß auch annehmen, daß das Verständnis eines Werkes von Gerhard Richter aus den 1980er Jahren durch die Zurkenntnisnahme von Steffi Grafs Tennisdreß, durch das Anhören einer Abba-Platte oder durch das stumpfe Anglotzen eines Paares Rollschuhe, einiger Playmobilmännchen und eines SONY-Walkmans vermehrt werden, oder daß man ein Bach-Oratorium nur in der engen Holzbank einer mitteldeutschen Barockkirche und mit einer Allongeperücke bekleidet richtig auffassen könne. Noch anders gesagt: Wir bezeugen im neuen Rijksmuseum nichts weniger als den neuerlichen Triumph des positivistischen Historismus.

Dem hier vorgestellten, fatalen Präsentationskonzept liegt ein museologischer Ungeist angelsächsischer Provenienz zum Grunde, der gerade dabei ist, sich von einer Mode zur dominanten Vorstellung demokratischer und (kommerziell) erfolgreicher Kulturvermittlung emporzuschwingen. Ausgangspunkt dieser Auffassung ist die Erkenntnis, daß schlichte, leere Räume mit alten Ölgemälden an den Wänden elitär und langweilig sind. Welcher Besucher hat in Zeiten verrottender Aufmerksamkeitskultur schon Zeit und Lust (und die Fähigkeit), sich ein einzelnes Bild gründlich anzuschauen? Wer bringt schon eine innere Vorstellung des niederländischen siebzehnten Jahrhunderts mit, seiner Diskurse und materiellen Kultur? Und statt den Besucher (also den Konsumenten, Kunden oder user) durch puristische, verdichtete Darreichung zu konzentriertem Sicheinlassen anzuregen, ist es allemal wohlfeiler, den Niveaulimbo mitzutanzen und die Latte ganz nach unten zu hängen, in diesem Fall also knapp über Disneyland. (Wobei nichts Schlechtes über Disneyland gesagt sein soll! Man kann heiteren Sinnes durch historische Kulissen laufen, solange diese nicht dazu dienen, große Kunstwerke zu marginalisieren, die es in Disneyland eben nicht gibt.)

Man verlagert also die Richtlinienkompetenz für die Ausstellung von bildungsbürgerlich-konservativen Kuratoren zur Museumspädagogik: Im ersten Schritt werden die leeren Gemäldesäle mit Multimediainseln und Wandtexten versehen, mit denen sich beschäftigen kann, wem das Betrachten der Bilder zu mühsam ist. In den Wandtexten teilen mutmaßlich praktikantische Verfasser den orientierungs- und informationshungrigen Besuchern zum Beispiel mit, daß Rembrandt ein hochbedeutender Maler gewesen sei, Vermeer und Rubens jedoch ebenfalls. Auch werden die Räume durch an die Wand gesetzte Titel zu period rooms, sie heißen »Handel und Wandel«, »Gott und das Sakrale« oder »Bürger, Bauer, Edelmann«. Im zweiten Schritt wird der Raum für Kunstbetrachtung durch Hinzustellung alter Dinge zu einem Raum des einfühlenden historischen Erlebens: Man will eine »Epoche« atmosphärisch verlebendigen. (Gern läßt man dazu auch italienische Lautenmusik aus der Renaissance erklingen und versteckt den Lautsprecher in einer ebenfalls ausgestellten Knickhalsgambe.) Mit dem kunsthandwerklichen oder alltagskulturellen Kram, so die Hoffnung, werden die Kunstwerke aus ihrem dünkelhaften Schweigen erlöst und erzählen von ihrer Zeit, bringen also, gegenwärtig formuliert, geschichtliche Narrative in Gang, denen dann sowohl das Rembrandt-Portrait als auch die abgenutzte Holzpantine als strukturell gleichwertige Dokumente dienen. So wird die Kunst, fast nebenbei, vom autonomen Werk zum bloßen historischen Zeugnis degradiert, dessen Machart, Qualität und ästhetischer Eigensinn nicht mehr von Interesse sind.

Der Triumph des vermeintlich Didaktisch-Expliziten über das Geheimnis des Bildes selbst führt zu einem doppelten Verhängnis: Zum einen ist es, wie oben beschrieben, vor Ort und konkret kaum mehr möglich, ein wichtiges Werk gründlich zu betrachten. Man braucht ein Vielfaches an Sammlungskraft, um all’ den raumgreifenden Tand, der zwar lehrreich, handwerklich qualitätvoll und kostbar, aber eben nicht phänomenologisch komplex und semantisch vielschichtig ist, aus dem Augenfelde fern zu halten. Weit schwerer aber wiegt, daß wir damit unsere Kunstsammlungen kulturpolitischen Avantgardisten und Aufmerksamkeitsökonomen überlassen, die Bildern offenbar mißtrauen und die vom Wesen der Kunst nichts verstehen oder verstehen wollen. – Und schon bald wird man zur Inaugenscheinnahme solch ikonophober Unterhaltungsexzesse nicht mehr nach Holland oder London fahren müssen: Es scheint fester Wille des Berliner Museums-Establishments zu sein, die Museumsinsel unter Hinzufügung der Gemäldegalerie mittelfristig zu einem solchen, alle Gattungen und Gegenstandsarten vermengenden Event-Zeughaus im wörtlichen Sinne aufzumöbeln.

Wo Kunst hingegen nicht am schalen Zeuge klebt, kann sie uns auch weiterhin erheben; und wie stets ist Lob rascher formuliert als Schelte: Wer Meisterwerke an-sich genießen und mit Respekt behandelt sehen will, der gehe in das ebenfalls neu eröffnete Museum Berggruen in Charlottenburg. Hier hat man alles richtig gemacht: Die Räume harmonieren proportional mit den zumeist kleinerformatigen Bildern; man hat schlichtes Parkett verlegt, dazu eine einfache Bauhaus-Fußleiste, weiße Wände, mehr nicht. Die kleinen Werkschildchen wahren ehrfurchtsvollen Abstand zu den Werken; auf weitere Verschriftlichungen, Begleittexte und aufoktroyierte Schmalspur-Deutungen, wie sie in Amsterdam jedem einzelnen Bilde beigegeben sind, wird weise verzichtet. Sieht so ein Museum für hochnäsige Puristen aus? Nein. – Es ist ein Museum für die Werke selbst, es gibt ihnen ihre Resonanz- und Freiräume. Und selten haben sie uns in jüngerer Zeit so erfreut!

Museum Berggruen, Berlin_4.2013

Mehr Text brauchen die Bilder nicht: würdige Hindeutung im neuen Museum Berggruen

In der Critique: Das »Borchardt«

19. April 2013

Eines Tages, am vorletzten Dienstag nämlich, war ich es schlußendlich leid, von jener vermeintlich legendären Gaststätte an der Französischen Straße immer nur in der Bunten und der Gala zu lesen: ich rief an und reservierte einen Tisch. (nota bene: in Restaurants werden Tische reserviert; bestellt hingegen werden sie bei Tischlern.)

Durch die schwere Schwingtür betrat ich zur gesetzten Stunden den weitläufigen Gastraum, der eher als Café oder Bistro erscheint denn als Restaurant. Der Mantel wird abgenommen, aber das ist es dann auch schon mit mondänem Gehabe: Der Ort ist weder piekfein noch glamourös. Klassisch elegant sind die weißen Tischtücher, die brusthohen Trennwände, die die große Säulenhalle gliedern. Ansonsten herrscht geschäftiges Treiben, die Serviermädchen zeigen keine Spur jener schnodderig-unhöflichen Blasiertheit, die man in Berlin für urbane Lässigkeit hält. Im Gegenteil: Sie sind freundlich, linkisch und beinahe rührend unprofessionell.

Auch sonst ist wenig von der leicht verruchten Prominentenaura zu spüren, die von den Gazetten ventiliert wird (was freilich auch an der Mittagsstunde unseres Besuches liegen mag!). Am Tisch neben uns, wo ich George Clooney, Max Raabe oder wenigstens irgendeinen Habitué aus der Bundespolitik erwartet hätte, sitzen zwei japanische Touristen, die, genau wie wir, die Pose des Routiniers erst gar nicht suchen, sondern neugierig umherblicken.

Das Publikum ist wohgekleidet: Italienische Schuhe, geschmackvolle Blusen und Krawatten, eine Prise Zwanzigerjahre-Dandytum; so, als habe man dem modischen Hauptsache-Scheiße-Diktat der Hauptstadt ein wenig hanseatische oder Münchner Eleganz untergemischt, die leider auch die navyblaue Steppjacke als zwingendes Attribut des großbürgerlichen westdeutschen CDU-Wählers mit sich bringt. Man sollte das ohne Werturteil betrachten, sich aber die Einschätzung erlauben, daß Berlin hier, um den Gendarmenmarkt, für einen kurzen Moment vielleicht doch das ist, was es an Ku’damm, Alex und Potsdamer Platz ganz sicher nicht ist: eine gediegene Metropole, eine Stadt von Welt.

So ist es schlichtweg angenehm und ein Kleinwenig stimmungsvoll, hier zu sitzen, zumal wenn das Essen kommt: Das Schneckenragout zur Vorspeise schmeckt schön und schmausig, der Salat mit Hering und Bete als erdiger Klassiker paßt zum gehemmten Schneefrühling vor den Fenstern. Dennoch kann das Essen nicht der Grund für die erstaunliche Reputation des Lokales sein: Es schmeckt prima hier, tadellos, aber beileibe nicht umwerfend. Und es ist nicht teuer: Den plat du jour gibt es um elf, das riesige Wiener Schnitzel mit fein besenfnotetem Kartoffelsalat um 21 Euro.

Sensationell in Vielfalt und Güte hingegen ist die Weinkarte, mindestens der Textform nach: Eine Recherche auf diesem Gebiet war leider nicht budgetiert. Sollte ich aber eines Tages zu Wohlstand gelangt sein, werde ich wiederkommen und mich durch die Auswahl deutscher Trockenbeerenauslesen und Dessertweine trinken. – Wir hingegen treten für heute ohne 78er Moselriesling im Bauch wieder auf die Straße und besuchen, des heiteren Kontrastes wegen, den quietschbunten und unfreiwillig unterhaltsamen flagshipstore der Firma Ritter Sport, direkt gegenüber. Dort besteht an einer sicherlich »Manufaktur« genannten Theke die Möglichkeit, sich hic et nunc ein Schokoladenquadrat mit Wunschfüllung anfertigen zu lassen. Und, siehe da!, da ist er wieder, der neue Berliner Standart, von dem ein Ort wie das Borchardt sich so wohlwollend und selbstverständlich abhebt: provinziellstmöglicher Eventquatsch im Gewande der hauptstädtischen Attraktion!

vier von fünf Punkten. Hier sollte man sich an schönen Diens- und Donnerstagen mit einem lieben Menschen, gerne auch mit Besuchern aus Restdeutschland, zum Lunch treffen!

caput fluxum (2011-13)

14. Februar 2013

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(Sechzehn Jahre stand jener von mir weiland im Töpferunterricht der ehrwürdig-freien Waldorfschule zu Essen a. d. Ruhr recht kunstlos zusammengefriemelte Tonkopf daheim am elterlichen Kamin, bis meine Mutter im vorvergangenen Herbst überaus nachvollziehbar feststellte, die Würde des præpotenten Werkes sei verbraucht, sie könne »das Ding nicht mehr sehen«, es solle jetzt »hier raus«. Der Kopf reiste ergo mit meiner französischen Mobilie nach Dahlem und nahm »nach der Gartenseite hin« (Th. Fontane) auf einem Holzsockel Aufstellung, den ich in prophetischer Antizipation jener Überführung schon im Sommer ultramarinblau angestrichen und dabei die satte valeur des Yves Klein Blue einmal mehr verpaßt hatte. Seit dem gefalle ich mir dabei, das Stück geformte Materie bei seiner Erosion in Sonne, Wind, Regen und Schnee photographisch zu begleiten. Eine Auswahl der Resultate zeige ich hier, in chronologischer Folge, wiewohl zum Wunderbaren des Verfalls ja gerade das Zirkuläre und Indiskrete gehören. Man kann die Bilder betrachten und mit dem Spiegelbild vergleichen; ein diskursiver Anschluß an vanitas, memento mori und den Aristotelischen Hylemorphismus hingegen ist möglich, aber an dieser Stelle nicht sinnvoll. Erschreckend bleibt, daß der Verfall sich am Ende exponentiell beschleunigt: Vom letzten halbwegs kopfförmigen Stadium bis zum bloßen Klumpen vergingen nur wenige Winternächte.)

Anfang

Der Dahlemer Morgenspaziergang (50 mm)

12. Februar 2013

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Die dritte Klotür

19. Dezember 2012

Einige besonders heitere Aporien und Absurditäten unserer säkular-gleichgültigen, tatsächlich aber von engen Denk- und Sprachnormen regulierten Gegenwart entspringen der akademischen Geschlechterforschung und ihrer lebenswirklichen Konkretion. Auf diesem weiten Felde ist in den letzten Jahrzehnten kaum ein Stein auf dem anderen geblieben; jahrtausendealte Wahrheiten, wie etwa Loriots »Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen« haben ihre Gültigkeit, genauer: ihren Gegenstandsbereich verloren. Denn, so lernen wir im Grundkurs zeitgemäßer Weltanschauung: Männer und Frauen gibt es gar nicht, wenigstens nicht so, wie in den letzten fünfundsechzig tausend Jahren: wesenhaft, hierarchisch, ausweglos.

Heute ist geschlechtliche Zugehörigkeit keine Frage der körperlichen Veranlagung, der Anatomie oder des Hormonhaushaltes mehr: ob ein Mensch über Gebärfähigkeit oder ein »Zipfelchen« (oder beides?) verfügt, hat nichts mit Mann- oder Frausein zu tun. Und im Grunde hatte es das auch in der Steinzeit nicht, nur das damals eben das unterdrückende Patriarchat, kulturelle Prägungen und falsche Erziehungsformen (Märklin vs. Mattell) einen ebenso fatalen wie wirkmächtigen Entscheidungszwang illusionierten.

Nun endlich walten Freiheit und Aufklärung. Zwar gibt es die körperlichen Unterschiede noch immer, aber man schreibt ihnen keine Bedeutung mehr zu (es sei denn, man hat etwas Schweres zu tragen). Nur noch Langeweiler definieren sich heute kontinuierlich als Mann oder Frau, reizvoller ist ein Leben dazwischen, im »dritten Geschlecht«. Dessen Erfinderin und Verkörperung ist Judith Butler, die das Allerweltswort der Diskriminierung final entgrenzt und uns gelehrt hat, daß jede kulturelle Form normativer Geschlechtszuschreibung der wahren Natur widerspreche. Selbst »Emma« ist somit (wie alle anderen Frauenzeitschriften) Ausdruck und Zementierung eines einschränkenden, polaren, armen Menschenbildes, das auf einer zufälligen gesellschaftlichen Setzung beruht. Frauenärzte, Frauenhäuser, Frauenzimmer und Frauenschuhe, Umstandsmode, Büstenhalter, Tampons und Kondome müssen überwunden werden, um einen neuen Menschen zu verwirklichen, der sich jeden Tag frisch und unbeherrscht für sein/ein/irgendein Geschlecht entscheidet. Wir unterstützen das, haben wir doch schon immer dafür gekämpft, die Strenge der Disjunktion, das begrifflich-scheidende Entweder-Oder durch das liebevoll-menschliche Sowohl-Als-Auch zu ersetzen. Unverbindlichkeit ist die große Tendenz unseres Zeitalters, und üben können wir jeden Tag: Findet sich beispielsweise in der adventlich überfüllten Innenstadt keine Abstellmöglichkeit für das liebe Automobil, so kann man sich, ganz ungezwungen, für ein halbes Stündchen als weiblich empfinden und auf den Frauenparkplatz stellen. (Der eo ipso chauvinistisch ist: seine Extra-Breite bezeugt die neandertalerhafte Überzeugung, Frauen seien schutzbedürftig und könnten nicht einparken. Das sei ferne!)

»This is not gay!« (Stewie Griffin) – Ein metrosexueller Kyniker steht uns am Dahlemer Bachstelzenweg keck und willig Modell

Frau Butler, die diese Anrede lächelnd übergehen würde, hat sich bis heute nicht als Satirikerin demaskiert, weshalb wir annehmen dürfen: Sie meint es ernst! Atemlos kann man verfolgen, wie es ihr in kaum zwanzig Jahren gelungen ist, aus ihrer persönlichen körperlichen Unentschlossenheit ein vermeintlich allgemeines Prinzip abzuleiten, eine einflußreiche Weltanschauungsmode zu prägen, haufenweise sog. »Theorie« im Taschenbuchformat zu veräußern und dafür mit Lob und Ehrungen überschüttet zu werden. (Das alles mutet nicht weniger aberwitzig an, als die Verleihung eines Literaturnobelpreises an provinzielle Schmalspurschreiberlinge wie Elfriede Jelinek oder Günter Grass es täte!) – Ich selber durfte vor einigen Jahren einem ihrer Vorträge beiwohnen, der (glaube ich) in der These kulminierte, alle Gewalt, aller Krieg und insb. der islamische Terrorismus seien subfreudianischer Ausdruck und Ergebnis der noch immer nicht völlig überwundenen Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau. Neue Ordnungen, neue Begriffe müssen also her:

»Toilettenbeschilderungen im Lichte neuerer Geschlechterforschung« wäre der Titel einer lohnenden soziologisch-bildwissenschaftlichen Dissertationsschrift, denn iust hier, im Alltäglichen, im Transit zum Orte der geschlechterverbindenden Körperentleerung, manifestiert und verbildlicht sich die Komplexität des Problems:

Sinn eines Piktogramms ist seine kultur- und sprachübergreifende, universelle Verstehbarkeit. Im Falle der Klotürzeichen beruht diese, bei aller Vielfalt im Detail, auf äußerlichen Körpermerkmalen und »codierten Stereotypen metakultureller Selbstinszenierungsstrategien von Genderdispositiven« (DFG-Deutsch), mit anderen Worten: sie sind »total sexistisch« (AStA-Deutsch). Hätten Frauen keinen Busen und kein Röckchen an, wären die Klobeschilderungen (a) nicht vorhanden und (b) nicht verständlich. Frau Schwarzer würde nun sagen: Die Schildchen repräsentieren und perpetuieren klischeehafte Bilder von Weiblichkeit. Gäbe es die Schildchen nicht, kämen Frauen eher auf die Idee, Hosen zu tragen. Frau Butler hingegen würde sagen: Gäbe es die Schildchen (und die beiden Türen) nicht, käme niemand auf die Idee, überhaupt Mann oder Frau sein zu müssen. In den zwei Klotüren zementiert und artikuliert sich eine zweiwertige Ordnung, mithin: der Klassenkampf, der Faschismus und die Umweltverschmutzung, besonders in China. Eine dritte Klotür wäre aber auch keine Lösung, weil sie die Unentschlossenen erneut zwänge, sich einer bezeichneten und bezeichnenden Gruppe zuzuordnen; Individualität und Menschsein blieben wiederum auf der Strecke, Logik und Widerspruchsfreiheit auch. Friedrich Hegel könnte Frau Butler hier sicher weiterhelfen, aber die beiden haben sich offenbar nie kennengelernt.

Der Sinn von Klotürpiktogrammen darf also, schlußendlich, nicht die Markierung eines Unterschiedes sein. Möglich wäre vielleicht eine unhierarchisch-arbiträre Zahl von Toiletten mit bunten Türen ohne jedes Zeichen. Denn jedes Piktogramm, selbst das abstrakteste, grenzte irgendeine Körperform, Hautfarbe oder Haltung aus. (Das unten stehende z.B. Menschen ohne Kopf).

Klotürpiktogramm, weibl.

Die einzige Frau an der TU Berlin, die einen Rock trägt (oder ist es ein Kleid? oder ein Dreieck?)

Das zuständige Ministerium für Volksaufklärung, Propaganda und Sprachbereinigung residiert ironiefrei, wohlalimentiert und traditionsbewußt in einer Gründerzeitvilla an der Otto-von-Simson-Straße gegenüber der Rostlaube an der Freien Universität. Von dort aus wacht der vom »Breiten Linken Bündnis« (»Breilibü«) des Studentenparlaments ermächtigte ständige Ausschuß über die rechte (also linke) Gesinnung. Zu diesem Behufe unterhält er (1.) eine »Frauen*Beratung«; (2.) ein »Referat für Lesbisch/trans*-feministische Info und Support«; (3.) ein »Schwulenreferat«, das sich aber auch an »bisexuelle, trans* und inter* Studierende« wendet; (4.) eine »Beratung für internationale Studierende« (vormals »„AusländerInnen“-Referat«); (5.) ein Behindertenreferat und (6.) eine Sozialberatung. Jeder Mensch findet hier also ihm gemäß Trost und Hilfe, außer der winzigen Minderheit der nicht verarmten, nicht behinderten, nicht migrationshintergründigen heterosexuellen Männer, die sich aber im Angesicht der über sie hereinbrechenden Woge der Diskriminierung ohnehin bald der Selbstabschaffung oder Neuorientierung zuwenden sollten. (Das hier häufig verwendete Sternchen, so erläuterte man auf Nachfrage, stehe für die »vielen bunten Zwischenformen der Lebensführung«, die sich nicht sprachlich ausdrücken ließen. – Begriffe, wer hätte das gedacht, sind Festlegungen.)

Die Freie Universität ist für das hier beackerte Themenfeld ohnehin das schönste Studienobjekt. Auf Schritt und Tritt trifft man Menschen, die glauben, man könnte fortschrittliches Bewußtsein durch sprachpolizeiliche Maßnahmen gleichsam verordnen. Man schreibt »mensch« statt »man«, um Semantik und Syntax für die neue Zeit fit zu machen; »VergewaltigerInnen« und »KanzlerInnen« hingegen sind überholt, weil der Binnenmajuskel die gemischt-, zwischen- oder nichtgeschlechtlichen Menschen verschweigt, ausgrenzt, sprachlich sozusagen »zernichtet« (Th. Bernhard). Überall in diesem vulgarisierten Differenzdiskurs findet man das liebste Stilmittel der politisch korrekten Gesinnungsdespotie: Das Anführungszeichen. Mit ihm kann man sich auch ohne präzise Gedankenführung von der normativen Kraft des faschistoid-heteronormativen Patriarchats und seiner phallozentrischen Herrschaftssprache distanzieren, damit nichts mehr das freie, also queere Menschsein hemmt: Man weicht vor der prägenden Kraft und historischen Schwere der Begriffe zurück in Uneigentlichkeit und Distanz, man hat es also nie so gemeint. (Franz ist ein „Neger“, ein „Ausländer“, ein „Mann“ – ab einem bestimmten Grad der eigenen intellektuellen Verwahrlosung werden die Anführungstriche bei mündlichem Vortrag mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände in die Luft gezeichnet).

Zeichen der Ungleichheit

Auf Höhe des Höhlenmenschen: Klotürpiktogramme in Georgien

Gipfel- und Wendepunkt des geschlechtlichen Jokus ist schließlich der Besuch eines studentischen »Projektcafés«, das, wie alle anderen in Berlin, von gendergemainstreamten, veganen Vollaufklärern betrieben wird. Dort gibt es, im Hinterzimmer, einen »antisexistischen Frauenraum«, zu dem Männer keinen Zutritt haben. – In Zeitlupe: Menschen, die Judith Butler gelesen, zumindest im Regal stehen haben, berauben mich meiner spontanen geschlechtlichen Wahlfreiheit und schreiben mir aufgrund erzanachronistischer habitueller und körperformaler Klischees in ihrem diskursiv-autoritären Herrschafts- und Definitionsbereich (dem Café) ein normatives Geschlecht zu, um mich dessentwegen sodann aggressiv zu diskriminieren, mir also den Zutritt zu jenem Refugium zu untersagen. Schapo!

(Es erwächst aus dieser Ausgrenzung freilich kein allzu triftiges Unbehagen, da man mit jenen Cafébetreibern und ihren Gästen ohnehin nicht zu verkehren wünscht. Wiese man sie spaßeshalber auf ihre gedanklichen Sackgassen hin, würden sie bloß wieder mit den Plastikkorken ihrer Piccolofläschchen nach einem werfen.)

Mehr heiteren Wahnsinn gibt es hier.

Postökonomie in Stichworten

11. Dezember 2012

»Kritisches Denken war immer erlaubt. Nur linientreu mußte es sein.«

(Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe)

Sein und Haben

Selbst die ZEIT, die sich auf das bequem-folgenlose bloße Heucheln von Systemkritik spezialisiert hat, zitierte jüngst eine Erhebung, derzufolge der persönliche Besitz in Deutschland in den vergangenen vierzig Jahren von im Schnitt 6.000 auf über 10.000 Einzelgegenstände pro Person gestiegen ist. Im gleichen Zeitraum sank die Lebenszufriedenheit, erfaßt in Kategorien wie Partnerschaft, Gesundheit, Zukunftshoffnung oder Berufsaussicht. Stark zugenommen hat hingegen die Zahl der täglichen Fernsehstunden, der chronischen Magen-Darm- und Rückenleiden, der Tabletten- und Alkoholabhängigen, der Depressiven und Ängstlichen.

Ohne wieder einmal Korrelation mit Kausalität zu verwechseln, erhellt aus diesen Zahlen, daß ab einem gewissen Wohlstandsniveau, daß in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren durchschnittlich erreicht war, der vermehrte Besitz von Konsumgütern das Glück der Menschen nicht mehr zu erweitern und die individuelle Sinngebung nicht mehr zu nähren vermag. (Es ist kein Zufall, daß zu eben diesem Zeitpunkt alle wichtigen Waren – vom Telephon über das Automobil bis zur Waschmaschine – technisch vollständig ausgereift waren). Stabilität besteht in einer derart übersättigten, dabei seelisch erschöpften Gesellschaft, mit Slavoj Žižek gesagt, nur noch solange, bis die Psychopharmaka aufgehört haben zu wirken.

Der Oikos

Ökonomie ist ein Fremdwort aus dem Altgriechischen, das als »Lehre von der guten Haushaltsführung« übersetzt werden kann. Der Haushalt soll in Ordnung sein, gepflegt und vorzeigbar. Er soll mit seinen finanziellen und konkreten Mitteln effektiv, effizient und nachhaltig wirtschaften, ohne Verschuldung und Verschwendung, und damit Grundlage sein für Wohlfahrt, Gesundheit und Prosperität seiner Mitglieder. In diesem Sinne können wir das (metaphorisch extrapolierte) Haushalten der Menschheit mit sich und der Welt nicht mehr als ökonomisch beschreiben: wie die vom Spätkapitalismus installierten oder geduldeten politischen Regime post-demokratische sind, so ist er selbst post-ökonomisch. Sein wesentliches Funktionsmerkmal sind Raubbau, Verschleiß und Verschmutzung, die Zerstörung seiner eigenen Grundlagen und die geistige und körperliche Zugrunderichtung seiner Sub- und Objekte. Indem man den rezenten Kapitalismus derart als Mißwirtschaftsweise beschreibt, wird einmal mehr die atemberaubende Tatsache einsichtig, daß es sich längst nicht mehr nur um eine Produktions- oder Handelsform, sondern um ein totalitäres System im engeren Sinne handelt, das zugleich Menschenbild, Lebensweise, Ideologie, metaphysisches Konzept und Herrschaftsform ist. In seinem Zentrum steht das Dogma, daß der Mensch des Menschen Wolf sei, daß sein Erfolg stets auf Kosten seiner Mitmenschen, im Wettbewerb nämlich, entsteht, und daß dieser Wettbewerb nur durch Selbstausbeutung, Optimierung und permanenten Streß erfolgreich zu absolvieren ist.

DIES IRÆ

Der politisch Konservative unterscheidet sich vom so-genannten Linken weder durch Art noch durch Schärfe seiner Gegenwartsdiagnose, sondern dadurch, daß er die Schlechtigkeit der Welt nicht als persönliche Kränkung, sondern als Unvermeidlichkeit ansieht: Noch in einer Textilfabrik in Bangladesch wähnt er sich in der besten aller möglichen Welten. Zeichen der Zeit aber sind nicht Gelassenheit, sondern Ekel und Zorn im Angesicht der uns alle mißbrauchenden Betriebswirtschafts-Leere: Jeder Mensch braucht eine Zahnbürste, weshalb es sinnvoll wäre, im Einzelhandel große Kartons mit hygienisch eingeschweißten Zahnbürsten aufzustellen. In einer beliebigen Berliner Drogerie zählt man 57 unterschiedliche Zahnbürstenarten; eine davon wäre zum Wohle der Menschen nötig, die anderen 56 sind das Ergebnis von Pseudoinnovation, Werbung, Irreführung und »falschem Bewußtsein« (Th. Adorno). Sie kosten Seelenruhe und Lebenszeit, weil auch ich eine Zahnbürste brauche, die ich nur hier erwerben kann und die ich also unter der erdrückenden Mehrheit der überflüssigen mühsam heraussuchen muß.

der Bürsten Überfülle

Wahlfreiheit, die keine ist

Geist und Sinn sind wundgerieben vom stumpfen Gesinnungsterror des städtischen Umfeldes: Die Straßen sind zugemüllt mit phallomanen Geländewagen aus Süddeutschland, die niederzubrennen sich niemand mehr aufrafft; fußballplatzgroße, gleißende Werbeplakate verschandeln das Blickfeld, bewirkt und bezahlt vom teuersten Unternehmen der Welt, dessen elektronische Fußfesseln mit Apfelemblem mittlerweile selbst von taz-Lesern ohne Scham und Selbsthaß verwendet werden. Man trinkt eine Tasse Café und versucht sich daran zu erinnern, daß auch die Planwirtschaft Nachteile hatte.

Sinnbild über den Wolken

Manchmal entblößt das Kapital dreist und drastisch seine Häßlichkeit, mit unfreiwilliger Komik: Vor einigen Jahren fand ich im hochglänzenden Bordmagazin einer bolivianischen Regionalfluglinie die unten gezeigte Werbeanzeige, mit der eine große Bank Kredite zu vermarkten suchte. Zur Köderung, nicht zur Abschreckung der potentiellen Kunden zeigte man Menschen, denen qua Photomontage der Kopf abgeschlagen und durch technisches Gerät, ein emblematisches Reiseziel sowie einen Geldsack ersetzt worden war. (Eine nackte Blondine fehlt; Bolivien ist sehr katholisch.)

»you are always on my mind…«

Mit der hier beworbenen Finanzdienstleistung sind wir zum Kern des Kapitalismus vorgestoßen, der eben auf der Leugnung der Tatsache beruht, daß nicht die Erkenntnis von Gut und Böse, sondern der Zins die eigentliche Ursünde der Menschheit ist (wie es alle großen Monotheismen auch erkannt, dann aber wieder vergessen haben). Wir sind zugleich im Kern des vom Kapitalismus gewünschten Menschenbildes angelangt: Der Kopf als Träger von Verstand, Vernunft, Individualität, Empfindsamkeit und Urteilsvermögen ist der reibungslosen Konsumwilligkeit grundsätzlich im Wege, er soll entfernt und durch die Ware selbst ersetzt werden, deren Erwerb durch das Reizen frühevolutionärer Rückenmarksfunktionen – die Gier auf Alphamerkmale, die Angst vor der Minderaustattung – katalysiert wird.

So hängt man denn hoch über dem quietschbunten Regenwald des Amazonasbeckens in der Luft, freut sich über die Selbstentlarvungskraft der Bilder und schaudert ob des Albtraumes, die eigenen Mitmenschen seien hemdsärmelige Zombies mit Flachbildschirmen oder Spielkonsolen auf den Schultern. So sieht er aus: der homo post-œconomicus.

Dummsprech – j’accuse!

3. Dezember 2012

Die hier zu erhebende Klage über die schwindende Qualität und Vielfalt der öffentlichen Sprache ist von Kritikern und Kulturpessimisten seit Jahrzehnten stets erneuert worden und kann leicht redundant und schal erscheinen. Allein, es hat sich nichts zum Besseren gewendet, im Gegenteil: Der linguale Stumpfsinn feiert seine Orgien, sobald ein Politiker, Journalist, ein Baccalaureus oder flüchtiger Bekannter das Maul auftut. Mithin atmet unsere rhetorische Position die hilflose Lächerlichkeit einer calvinistischen Predigt im Bordell, die dennoch aus ihrer unbeirrten Wiederholung das Pathos der notwendigen Vergeblichkeit schöpfen kann. – Wir halten uns bündig, und beginnen mit den allseits bekannten, weil ätzendsten Beispielen semantischer Diarrhoe:

• einzigartig

• kreativ

• genial

• interessant

• faszinierend

• spannend

Diese Adjektive sind zu meiden; sie bedeuten nichts (mehr), sie sind bereits schlußendlich zu Tode geschwätzt. – Am heftigsten grassiert das gedankenlosen Herumaasens mit Letzterem, daher noch einmal der Hinweis: »spannend« sind gute Kriminalromane, Horrorfilme und – allerhöchstens – Fußballspiele. Alles andere ist nicht spannend, sondern angenehm, anregend, aufregend, mitreißend, atemberaubend, turbulent, fesselnd, reizvoll, lohnend, erregend, packend, vielversprechend, informativ, überraschend, fulminant, famos, großartig, bemerkenswert, knorke, töfte, oder einfach gut und schön.

Wer eines der hier genannten Adjektive öfter als einmal am Tag verwendet, beleidigt und sabotiert nicht nur jene, denen die Sprache ein geistiges Präzisionswerkzeug ist, sondern er demonstriert auch aller Welt seine unverzeihliche gedankliche Faulheit, ja: Blödigkeit, in des Wortes altem, tiefem Sinne. Er sollte von Gesetzes wegen zum öffentlichen Tragen eines papagenoesken Mundschlosses und einer purpurnen Schandmütze verurteilt werden. – Nämliches gilt auch für Füllsel wie auf jeden Fall, ziemlich, sozusagen, durchaus, ichweißnicht, irgendwie, keine Ahnung und natürlich. Das meiste, was man »natürlich« nennt, ist bei genauerer Betrachtung eher folgerichtig, einleuchtend, naheliegend, selbstverständlich, einsehbar, zustimmungswürdig, et cetera, nur eben nicht natürlich. – (Unnötig zu erwähnen, daß keines dieser Wörter per se schuldig oder dumm ist: Erst durch inflationäre Verwendung wird aus einem wertvollen Sprachbaustein ein Aldi-Adjektiv, wird aus dem redlichen Gebrauch ein törichter Mißbrauch.)

Sinnbild des Irgendwie: Die Kreuzung Unter den Eichen / Drakestraße in Berlin-Lichterfelde – (H. Bredekamp aus Berlin-Mitte meint dazu: »Nur Idioten benutzen Bilder als bloße Illustration!«)

In der Critique: Das »Hotel Adlon«

9. November 2012

Der zweite Auftritt unserer großen Rundfahrt durch die feinsten Herbergen der Reichshauptstadt führte uns iustament in das einzige Hotel von Weltruhm, das zwischen Rhein und Oder recht eigentlich zu finden ist: Das »Adlon« Unter den Linden.

Ein kleiner Spaziergang durch die Lobby und die angrenzenden Gelasse offenbart gediegene, aber unaufdringliche Materialität auf der Stilhöhe eines biedermeierlich-preußischen Klassizismus; dabei bleiben dem geschulten Auge die Spuren der 1990er Jahre – Steckdosen aus dem Baumarkt, falsche Profilleisten, etwas zu hochfloriger Teppichboden, Skulpturrepliken aus Gußmarmor – im Detail freilich nicht verborgen. Insgesamt aber überwiegt der Eindruck des Selbstbewußt-Mondänen, ohne Protz und Sentimentalität.

Die Sitzmöbel in der weiten, glaskuppelüberwölbten Eingangshalle sind etwas angewetzt und so gewählt, daß man darin nicht zu versacken versucht ist. Und darum geht es in einer Grandhotellobby auch gar-nicht: Es geht um Präsentation, Austausch und Geschäft. Auch das Publikum ist angenehm dezent: Nicht adipöse Russen in ausgeleierter Ballonseide, nicht Schlitzaugenmädchen in pinken Turnschuhen prägen das Bild, sondern »normale Weiße, wie wir« (Loriot).

Im aristokratischen Rahmen spielen wir ein ironisches, dabei doch ganz demokratisches Spielchen: Der Herr Ober – mutmaßlich mittelloser Doktorand in Ausübung nebenberuflicher Tätigkeit – hat sich in Livrée geworfen, um uns – mittellose Doktoranden in Ausübung heiterer Prokrastination – aufzuwarten. Beide Parteien lächeln bei diesem Mummenschanz, und sind ordentlich rasiert. Der Café kommt in matt patiniertem Silber und KPM, das ist das Haus sich schuldig. Gereicht wird unprätentiöses, aber sehr schmausiges Schokoladen-Mürbegebäck. Zu Testzwecken haben wir sowohl Filtercafé als auch einen Espresso nach italienischer Hochdruck-Façon bestellt. Beide (sagt S., der etwas davon versteht) schmecken schön, nicht bitter, nicht sauer, tadellos. Einziges Skandalon an diesem Nachmittag bleibt eine große Laufmasche auf dem rechten Knie des Serviermädchens, deren verruchte Präsenz seine aparte, brav-blonde Anmutung heftig kontrastiert. Vielleicht doch noch eine hübsch beiläufige Referenz an die roaring twenties?

Zwei Heißgetränke und eine kleine Flasche Selters erwerben wir um knapp 50 Mark. Ambiente, sagte einmal ein kluger Mann, ist alles das, was man zwar bezahlen muß, aber nicht essen kann.

Vier von fünf Punkten, very well!

Von einer, die es geschafft hat

3. November 2012

Nichts bedarf die deutsche Seele, diese sanfte, langsam wiedererwachende Gigantin, mehr, als entschlossener Führung. Dankenswert ist es daher, wenn das in jedem Sinne führende Druckerzeugnis des Landes den Volksgenossen endlich wieder vor Augen führt, was wir, Deutschland nämlich, verdient haben. Gleichwohl: So klar, wie sie scheint, ist die Botschaft des hier gezeigten Titels nicht. Der rote Pfeil deutet auf eine Hakenkreuzfahne, der ein Demonstrant den erhobenen Mittelfinger entgegenstreckt. Was also hat Deutschland nicht verdient: Die Herrschaft des Nationalsozialismus, oder, im Gegenteil, deren Verunglimpfung durch faulige Griechen? (Das Schönste an jener Zeitungsseite ist freilich das debile blaue Männchen, das, in ähnlicher Manier, auch auf irgendetwas zeigt!) – Wir stellen diese Frage zurück, und gratulieren zunächst:

Du nämlich, BILD-Zeitung, hast es geschafft! Du bist Platzhalter einer noch immer inexistenten rechtspopulistischen Partei und souveräner Staatsträger zugleich; Du hast mit Deinen Campagnen selbst die vermeintlich Unsterblichen bis in die Tiefe ihres Gedärms korrumpiert (»Was halten Sie von BILD, Udo Lindenberg?«); Du hast eine Betonfeministin als Kolumnenschreiber engagiert und finanzierst Dich zugleich mit galanten Kleinanzeigen. (Oder, lieber Frau Schwarzer, faßt »devote Fickstute besorgts dir Tag&Nacht« ihr Frauenbild und persönliches Bedürfnisgefüge am Ende trefflicher zusammen, als zu behaupten wir uns jemals trauen würden?)

Und nun, als Buttersahnekonfektkleks obendrauf, noch dieses: Auf der offiziellen Kohl-Gedenkbriefmarke der dt. Bundespost lesen wir jenen grob geschichtsfälschenden Ehrentitel, den Du erfunden und mit geschwollenem Nationalbürzel ad nauseam wiederholt hat, bis er sich unauslöschlich in die »Geschichtsbücher« (H. Kohl) eingebrannt hat: »Kanzler der Einheit« – Dabei ist das feiste Scheusal ausnahmsweise unschuldig: Es war eben zufällig im selben Raum, als die damals Mächtigen die feindliche Übernahme des Ostblocks ausgekungelt haben.

Du hast, BILD-Zeitung, den Widerspruch besiegt, die Exkremente vergoldet, die Gefahr benannt (i.e.: Hartz-IV-Betrüger). Wir hingegen haben, mit Kästner, den Unfug nicht verhindert; wir haben nicht oft genug Heine gelesen, dafür das Gymnasium verkürzt, die Geisteswissenschaft verödet; wir haben sogar, wenn auch nur einmal, bubble tea (deutsch: Blasentee) getrunken. – BILD-Zeitung, wir haben Dich verdient!

»Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muß so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zuläßt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.« (Max Goldt)

Jeder sollte eine machen: Die Harzreise

30. Oktober 2012

Das politische Barock

14. Oktober 2012

»Die Politik ist zum Tummelplatz verkommen für machtambitionierte Opportunisten und Schaumschläger.«

(Michael Schmitz, DER SPIEGEL 35/2012)

»Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein.«

(Bertolt Brecht, Dreigroschenoper)

Zweiundsechzig Prozent der bundesdeutschen Einwohner sind nach jüngster Umfrage irgendeiner Qualitätsillustrierten der Meinung, Bundeskanzler Merkel gehe es bei seiner Arbeit »vor allem um Deutschland«. Hätte die gleiche Menge der Behauptung zugestimmt, die Erde sei eine Scheibe, der Mond aus grünem Käse, und es schneie hierzulande vor allem im August, man wäre nicht weniger erstaunt. – Was fängt man an mit einer derart krassen und niederschmetternden Fehleinschätzung? Nimmt man sie als neues Indiz für die alte Überzeugung, daß die Mehrheit eben niemals im Recht ist?

Im Jargon der Uneigentlichkeit

Zunächst ist der ebenso perfiden wie effektiven Arbeit des Regierungspresseapparates Anerkennung zu zollen, dem es unter Aufbietung aller Nebelkerzen und psychologischen Tricks stets gelingt, das Gegenteil dessen, was der Fall ist, in die öffentliche Aufmerksamkeitsökonomie einzubetonieren. Ergebnis ist das mediale Trugbild einer fiktionalen Kanzlerin, die sich kümmert und sorgt, die sich ihrer Verantwortung stellt und für das Wohl ihrer Mitbürger kämpft, und zwar auf Grundlage emotionaler Grundzustände wie Engagement, Trotz, Konsequenz und Anteilnahme.

Wie der klarsichtige Beobachter hingegen erkennen darf, geht es Angela Merkel bei ihrer »Arbeit« tatsächlich um nichts anderes als um die nächste Wiederwahl. Anders gesagt: Grund, Sinn und Endzweck der Kanzlerschaft Merkel ist allein die Kanzlerschaft Merkel. Noch anders (und unfein) gesagt: Das einzige, was Merkel von früh bis nachts als Leitstern allen Denkens und Handelns erscheint, ist die Hängung ihres eigenen Arsches.

Nichts hat dieser Regentin je »am Herzen gelegen«; zumal jenes Organ bei einem derart roboterhaft erscheindende Wesen ohnehin nur als Blutpumpe, nicht aber als Metaphernspender fungieren kann. Ihr Handeln ist getrieben von einem einzigen rückenmarkgesteuerten Instinkt: von der Angst vor Machtverlust. Diese Angst determiniert alle Strategien, Entscheidungen und Sprachregelungen. Wenn man Aufzeichnungen ihrer öffentlichen Reden betrachtet, beschleicht einen kalt die Zusammenhanglosigkeit von Sprecher und Gesprochenem: Daß sie kaum je etwas Nahrhaftes oder Kluges gesagt hat, unterscheidet sie nicht von anderen Spitzenpolitikern; das Gespenstische an Merkel ist die vollendet geglättet Façadenhaftigkeit ihrer Äußerungen. Routiniert repetiert sie die von ihren Zuarbeitern ausgefeilten Floskeln, ohne irgendetwas im Wittgensteinschen Sinne je zu meinen, ohne das geringste persönliche Interesse am Inhalt der sie verlassenden Worte. Oft hat man ihre Vortragsweise als langweilig und teilnahmslos kritisiert; tatsächlich erscheint sie als vorbildliches Beispiel barock-neomachiavellistischer Rhetorik: Der politische Redner beherrsche (a) die Kunst, möglichst viel zu reden, ohne dabei etwas zu sagen; (b) falls er etwas sagt, sei es niemals die Wahrheit; (c) er erscheine dabei als einfühlsamer, gütiger Mensch, halte aber (d) die Aussagen seiner Rede möglichst weit von der eigenen Person entfernt; sollte es (e) Unerfreuliches mitzuteilen geben, schicke er seinen Stellvertreter. – Diesen Grundsätzen gemäß lautet die oberste Parole des herrschenden Regimes: Es darf alles gesagt werden, außer der Wahrheit. (Was einem dräut, der diesem Gebot nicht gehorcht, konnte man trefflich am Fall des naiven Herrn Köhler besichtigen, der über die banal-evidente Feststellung, Deutschland führe Krieg nicht aus Bonhomie, sondern zur Sicherung seiner Wirtschaftskolonien und Rohstoffrouten, seines Amtes verlustig ging.) – Daß Merkel sich dabei nicht einmal bemüht, den Inszenierungscharakter ihrer prinzipiellen Falschheit zu vertuschen, ist wahlweise der Gipfel demagogischer Raffinesse, oder aber der methodische Kern jenes degoutanten Skandalons, das ihren Namen trägt.

Das Vakuum der Macht

Es ist fatal oder wenigstens jammerschade, daß ein schönes und in vielen Hinsichten reiches Land wie Deutschland von einer Machtmaschine regiert wird, die außer dem Selbsterhalt keine politischen Ziele, keine Weltanschauung und keine Werte hat. Es hat diesen Zustand in keinem deutschen Staatskonstrukt je gegeben. Alles außerhalb des eigenen Status und der taktischen Winkelzüge zu seiner Perpetuierung ist Merkel egal; genauer: zur Gänze gleich-gültig, wie sich an der Beliebigkeit, Inkohärenz und Widersprüchlichkeit ihrer Entscheidungen ebenso wie an deren faktischer asozialer Bösartigkeit eindringlich und offensichtlich ablesen läßt.

Ob ihre Minister lügen und betrügen; ob Geheimdienste neonazistische Mörderbanden protegieren; ob junge Hauptschüler als Kanonenfutter nach Afghanistan verbracht werden; ob die Arbeits- und Familienursel eine »Akademikerinnenwurfprämie« (V. Pispers) auslobt und im gleichen Abwasch ein »Betreuungsgeld« installiert wird, das die Emanzipation der Frauen verhöhnt und hintertreibt und zugleich garantiert, daß das Souterrain der Gesellschaft weiterhin bildungsfrei und kontrollierbar bleibt; ob Siemens/Krauss-Maffei immer mehr schweres Gerät zur Aufstandsbekämpfung an arabischen Marionettenfürsten liefert; ob ein Georg Klein in den Generalsrang erhoben wird, weil/obwohl er 91 Zivilpaschtunen wegen Treibstoffdiebstahls plattbomben ließ; ob Atomkraftwerke laufen oder nicht – alles das (und alles andere) hat Frau Merkel niemals auch nur für einen Moment interessiert.

Das einzige, was sie aus naheliegenden Gründen obwalten sehen will, ist der marktwirtschaftlich-alternativlose Sachzwang, der wesentlich in der andauernden Umverteilung von unten nach oben, in Normierung und Kontrolle, vor allem aber in der Ausweitung und Alleinstellung der rezent-autoritären condition humain und ihrer traurigen Tetrarchie – Vereinzelung, Verängstigung, Verschuldung, Verdummung – besteht.

Wahrscheinlich aber stimmt nicht einmal das: Wahrscheinlich betreibt Merkel nicht einmal den zerstörerischen Wahn spätkapitalistischer Entfremdung wirklich mit Eifer und aus Überzeugung, sondern nur, weil ihre Partei und deren Financiers es so erwarten. Genauso gut könnte sie einer faschistischen oder pseudosozialistischen Regierung vorstehen; sie müßte weder ihr Kabinett noch ihren Stab oder ihre Sprechweise austauschen, sie würde es wohl nicht einmal merken. Jüngst wurde in einem vermeintlich »kontroversen« Buch über Merkel behauptet, ihr Führungsstil verrate ihre politischen Lehrjahre in der DDR und sei dem Honeckers ähnlich. Diese Behauptung ist verleumderisch und falsch: In keinem Kabinett der DDR waren Ahnungslosigkeit, Korrumpiertheit, Volksfernde und Nepotismus derart akkumuliert wie in der heutigen Bundesregierung. Honecker mag, wie Merkel, als dröger Spießer und trockener Schleicher erscheinen, als vollendeter Bureaucrat, der sich in der Arroganz der Macht verschanzte. Im Unterschied zu Merkel aber verfügte Honecker über eine, wenn auch realitätsentfernte, Vorstellung einer besseren Welt, über ein Menschenbild, und über Werte und Ziele jenseits der eigenen Machtsicherung. Mehr noch: er ist für diese Überzeugungen Risiken eingegangen und hat persönliche Opfer gebracht (Gestapo-Zuchthaus Görden 1937-45). Angela Merkel, das bezeichnet sie mehr als alles andere, hat noch nie für etwas außer sich selbst gekämpft, sie hat nie unpopuläre oder gar gefährliche Ansichten geäußert oder ihre gluteale Bequemlichkeit auch nur einen Moment aufs Spiel gesetzt. Wo bei Honecker der biedere und späterhin so schamvoll geplatze Traum des kleinbürgerlichen Staatssozialismus wesenhaft weltanschaulich waltete, findet man bei Merkel nur: Leere. (Nachvollziehbar ist oben erwähnte Engführung bestenfalls insofern, als Merkel, mindestens symbolisch, einen durch und durch stalinistischen Habitus von Gefolgschaft, Loyalität und Personalbereinigung praktiziert. Selbst Stalin aber hätte einen Molch wie Ronald Pofalla in seinem engsten Umfeld wohl keine drei Tage ausgehalten.)

Staatstheorie und Ekel

Die Ursache des Ersten Weltkrieges bestand, nach einer bekannten Einsicht Karl Kraus’, nicht in den geopolitischen oder ökonomischen Verhältnissen der Zeit, sondern in einem »Mangel an Phantasie« seitens der Entscheidungsträger. In diesem Sinne haben wir bis heute nichts als Glück gehabt: Man stelle sich vor, Deutschland würde von einer echten Naturkatastrophe, einer Epidemie oder anderen biblischen Schrecknissen heimgesucht, oder von Afghanen, die konsequenterweise kämen, um die Freiheit ihres Landes an Harz und Hundsrück zu verteidigen; – wie ätzend würde dann der herrschende Mangel (die Mangel?) offensichtlich, wie dringend nötig wäre dann ein politischer Republikvorsitzender, der nicht nur im zoologischen, sondern im emphatischen Sinne als Mensch anzusprechen wäre, und der das Geschick der ihm anvertrauten Menschen lenken könnte, mit Gewissen, Charakter und intuitivem Kompaß? Wären einem in solchem Falle nicht sogar Übeltäter wie Berlusconi oder Sarkozy lieber, von denen man immerhin weiß, daß sie menschlicher Regungen, wenn auch der niedersten, überhaupt fähig sind?

Während also im Kanzleramt weiterhin ein geschlechts- und seelenloses Stück fleischgewordener Machtgeilheit alle Fäden in der Hand hat, ein Biotop, das lügt, sobald es die Luft mit Phonemen erfüllt und das jedem Sachverhalt mit der Fratze des pragmatischen Nihilismus begegnet, stellt sich die Frage, wie man die herrschenden Verhältnisse überhaupt politologisch einordnen kann.

Leben wir in einer Demokratie? – Demokratie besteht dann, wenn der Wille des Volkes Gehör findet. Die Mehrheit hierzulande spricht sich gegen deutsche Kriegsbeteiligung aus, gegen Rüstungsexporte, gegen Zwei- oder Dreiklassenmedizin, gegen staatlich sanktionierte Verarmung und »Leiharbeit«, gegen Steueramnestien für Großverdiener, mittlerweile sogar gegen eine allzu freie Marktwirtschaft. Und obwohl Parteien zur Wahl stehen, die alles dies programmatisch verhindern wollen, wählt das Volk seine Zuchtmeister und Ausbeuter in freier und geheimer Wahl immer wieder selbst. Wie ist so grenzenlose Dämlichkeit erklärbar?

Die triftigste Ursache der kollektiven Verirrung – das ist eine Binse – liegt in der massenmedialen Lenkung. Eine »Zensur« (Grundgesetz) findet nicht institutionell, sondern faktisch statt, indem relevante Informationen nur noch in telephonischen Kurzmitteilungen, Hinterzimmergesprächen und Exclusivinterviews verbreitet werden, an denen wiederum nur jene Journalisten teilhaben, die sich durch allenfalls scheinbar kritische Hofberichterstattung empfehlen. Die Bevölkerung wird von Springer und Compagnons mit »Angst, Haß, Titten« (F. Urlaub) und antikommunistischer Desinformation klassisch-bundesdeutscher Prägung gemästet, bis sie Dieter Bohlen als einen »Pop-Titan« und jeden, der die gegenwärtige Wirtschaftsordnung nicht für die einzig mögliche und alleinseligmachende hält, als einen Spinner und »linken Chaoten« ansieht. Eine freie politische Willensbildung findet nicht statt; – handelt es sich also um einen schlechten Kalauer, um eine Mediokratie, um die Herrschaft des medial konsensfähigen Mittelmaßes?

In einer Monarchie, Tyrannei, Despotie oder Diktatur immerhin leben wir nicht, denn dafür bräuchte man einen Monarchen, Tyrannen, Despoten oder Diktator, und derart auratische, kraftvolle Titel sind – im heutigen wie im antiken Sinne – für der/die/das Merkel schlechterdings und augenscheinlich unvorstellbar. Plutokratie herrscht unterdessen sicherlich, aber wann seit der Bronzezeit wäre die je das Spezifikum einer einzelnen Epoche gewesen? – Wahrscheinlich haben wir also die (nach Aristoteles) schlimmste aller möglichen Staatsformen erwischt: Die Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels.

Die Leitkategorie des politischen Barock ist nicht bunte Verschwendung, Pornographie, billige Inszenierung oder Schwindelrede, sondern das Obszöne schlechthin. Und obszöner könnte die Lage nicht sein: Wie werden wir unseren Kindern erklären, daß wir zwar Bioobst gekauft und ZEIT gelesen haben, zugleich aber die Leitung des marktwirtschaftlich-politischen Zusammenhanges der geist-moralischen Unterschicht, dem übelsten Geschmeiß des Universums, überlassen haben? Wie kann man sich überhaupt in die Augen sehen in der Gewißheit, daß man auch nur einen Tag ohne aggressive Gegenwehr eine Regierung toleriert hat, der z. B. Kristina Schröder angehört? Ein Mensch, der nicht einmal als seine eigene Karikatur zu gebrauchen ist, ein Artgenosse, der auch ohne Polemik dumm ist wie Toast? (Nicht etwa dumm wie Lieken-Urkorn-Toast, sondern dumm wie weißer, angelsächsischer Sandwich-Toast ohne Rinde, solcher nämlich, der sich pro Standartgebinde mit kleinstem Muskelaufwand mühelos auf die Breite der Reclamausgabe von Theodor Storms »Schimmelreiter« zusammendrücken läßt.)

Man sollte in solchen Zeiten (wie neulich ein Familienmitglied sehr hübsch bemerkte) eben beides können: ins Klo greifen und nach den Sternen! Praktisch hieße das: man bestelle sämtliche Presseerzeugnisse ab, schalte das Radio aus und gehe in die Oper, in den Zirkus, oder in die innere Emigration.

fiat lux!

10. Oktober 2012


Auch nur ein Event, aber viel schöner als ein Sackhüpfhalbmarathon

Teamwürg

3. Oktober 2012

In aller Kürze: Uns gab neulich ein experimentell unterfüttertes und wohl-vermessenes, mutmaßlich doppelblindes Studienergebnis zu denken, mitgeteilt in einem vulgärpsychologischen Käseblatt: Die Kombattanten eines Tauziehens übertragen demnach um so weniger physikalische Kraft auf das Tau, je mehr Wettbewerbsteilnehmer mit ihnen gemeinsam an einem Ende des Taues ziehen. Subjektiv empfinden sie dabei stets die gleiche Anstrengung und geben an, je gleiche Muskelzugkraft an das Tau angelegt zu haben. Formal übersetzt: Die Stärke der Einzelkraft (f) ist umgekehrt proportional zur Menge der Teilnehmer (m), mit denen gemeinsam man diese Kraft auf einen Gegenstand (g) ausübt. Bei einer Menge von Teilnehmern (>12) kann das jeder nachempfinden: Ob ich selbst noch mitziehe, mitrede, mitdenke, scheint für das Gesamtergebnis intuitiv unerheblich. Reformuliert, und weil wir gelernt haben, Kräfteverhältnisse symbolisch aufzufassen: Der Mensch mag ein soziales Wesen sein, seine Schaffenskraft aber nimmt in der Gruppe mit biologistischer Sicherheit ab.

Dazu stellen wir fest: Die ägyptischen Pyramiden und fast alle anderen Bauwerke wurden als Gemeinschaftsleistung geschaffen, Sein und Zeit, die neunte Symphonie, der Zauberberg und die Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle jedoch nicht.

Wer auf Gruppen vertraut, mißtraut der Leistung Einzelner. (Der Volksmund spottet, »TEAM« sei eigentlich eine Abkürzung: »Toll! Ein Anderer macht’s!«) – Daher, noch kürzer: Niemand will Ihnen den freien, unhierarchischen Austausch mit Ihren Mitmenschen verleiden, niemand als wir würde den Wert des Dialoges höher schätzen. Sollten Sie jedoch in ihrem (kurzen) Leben etwas Bedeutendes, Nichtarchitektonisches vorhaben: Bewerben Sie sich niemals auf Stellenausschreibungen, in denen »Teamfähigkeit« verlangt wird!

Das Ornament der Masse

[© Arbeitsgruppe Siegfried Kracauer (Frankfurt a.M., Neu-York), school of jewish cultural nonsens / Michelangelo Buonarroti (Florenz a.A., Rome), honors student at medici-academy of sculpture and neo-classical design / Unter Mitarbeit von Fotomarburg, Microsoft, meiner Flasche, meiner Maus, meiner Grille und meiner Katze / In Cooperation mit dem Exzellenscluster »Das Dispositiv der Körperlichkeit in metaindividuellen Artefakten der mittelitalienischen Plastik 1490-1495« / Mein besonderer Dank geht an Chris, Siggy, Joe und Ute – I’d be nothing without your support!]

Zeitgeist und Schwachsinn am Potsdamer Platz

28. September 2012

»Dieser Sprache geht es, bei aller unbedingten Vielseitigkeit des Ausdrucks, um Präzision«

(Paul Celan)

Das Wort vom »Terror« erscheint nach Jahrzehnten willkürlicher rhetorischer Knüppelei nur mehr als Leerstelle, als ad nihilum expandierte Metapher. Zugleich ist es (im engeren Sinne der Herren Foucault-Habermas) ein Lehrbeispiel für Herrschaft im Diskurs, nebst Barthes’scher, neomythischer Aura: Als Terrorist soll in der Öffentlichkeit stets jener gebrandmarkt werden, der einer konsolidierten Herrschaft, welcher couleur auch immer, mit Gewalt und sub-agonalen Mitteln (früher nannte man das »guerilla«) den Dolch in der Rücken zu stoßen versucht. Der Begriff ist exzessiv wendehälsisch, genauer: ein Bumerang, insofern ja in der Regel die Definitionshoheit ausübenden Institutionen (Putin, BILD, die »westliche Wertegemeinschaft«) von den vermeintlichen Terroristen ebenfalls als terroristisch empfunden werden.

Ein etwas abwegiges Beispiel für die gefährliche Blödigkeit dieses Kampfbegriffes (sowie für das unkontrollierbare Gegeneinander von Text und Bild; Barthes hätte es gefallen!) findet sich auf einem Plakat, das mir jüngst auf dem S-Bahnsteig am Potsdamer Platz auffiel:

Das Plakat, großformatig und permanent auf einer Hintergleiswerbefläche montiert, soll die Masse der orientierungslosen Berlinbesucher zur wenige hundert Meter südlich gelegenen, unlängst neu gestalteten Gedenk- und Dokumentationsstätte auf dem Gelände des ehemaligen Gestapo-Hauptquartieres leiten.

Wir wollen nun nicht davon handeln, wie abgeschmackt es ist, sprachliche Genauigkeit einer griffigen Alliteration zu opfern (warum, bitteschön, ist jenes Gelände eine »Topographie«?); auch davon nicht, wie erfolgreich die Leitideologen der Bundesrepublik mit derartigen Orten des rituell-gebändigten Erinnerns ihr eigenes Geschichtsbild zementieren und so das erzreaktionäre, im Grunde revisionistische und bei den meisten Historikern heute obsolete Mythologem vom »braunen Terror«, der das arme, ahnungslose Deutschland plötzlich heimsuchte, perpetuieren.

Nur auf das Ungeheuerlichste, Aberwitzigste, Dreisteste sei hier hingewiesen, unter dem Eingeständnis, daß es mir selbst, obwohl derart in-your-face, erst nach einer Weile, dann aber mit kaltem Schauer, in die Augen stach: Auf der gesamten Bildfläche nämlich ist das schlicht gestaltete Plakat mit einer düsteren Luftaufnahme der zur Wüstenei zerbombten Reichshauptstadt hinterlegt. Man kennt, zumal als Bürger dieses Landes, solche Photographien allzu gut, ihre gewaltige schrecklich-sublime Wirkung hat sich abgenutzt, von daher einem auch die böse Deplatziertheit eines solchen Bildes in diesem konnotativen Zusammenhang so leicht entgeht. Dabei könnte der Irrsinn simpler nicht sein: Folter und Mißhandlung in den Kellern NS-staatlicher Schlägertrupps haben kaum oder nur höchst mittelbar etwas mit dem 2. Weltkrieg zu tun, in dessen Verlauf sich die alliierte Generalität gezwungen sah, Deutschland in Schutt und Asche zu legen. Bis heute wird von vielen bräsig-braunen (und einigen gescheiten) Zeitgenossen über Sinn und Moral dieses Bombardements gestritten. Kann es also der Fall sein, daß den Verantwortlichen dieses Plakates schlicht entgangen ist, daß man im NPD-Jargon nicht nur vom »Bomben-Holocaust«, sondern auch vom »Bomben-Terror« spricht?

Verlockend ist es, dieses Plakat als Puzzleteil einer großen historischen Verschwörung zu begreifen: Als einzige Nation auf der Welt sieht sich Deutschland noch immer genötigt, raumgreifend auch auf die nicht-glorreichen Aspekte seiner Geschichte hinzuweisen. Das kann einem neopatriotischen Zeitgeist, erst recht einer Hitlerwählpartei-Nachfolgeorganisation wie der CDU, nicht schmecken, weshalb man der Zumutung des mea-culpa-Gedenkens mit psychologischer Raffinesse begegnet: Das Bild ist mächtiger als der Text; der naive Betrachter soll »Terror« lesen, dabei aber eben nicht an die Greuel der Gestapo (die sich mittlerweile in »Bundespolizei« umbenannt hat), sondern an den britischen Aggressor, an »Bomber-Harris«, denken. In diese Strategie fügt sich beispielsweise auch der Plan, mitten in der Stadt mit großem Bohei ein »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« zu errichten, das nach wenigen Jahren rasant zu zerbröseln beginnt und also eher als gebaute damnatio memoriæ aufzufassen ist. – Wie clever ist es, an den nun aber endlich unter den Teppich der Weltgeschichte zu kehrenden Völkermord in einem erst tausend-, dann bloß zwölfjährigen Reich mit einem Mahnmal zu erinnern, daß sich ebenfalls nach zwölf Jahren selbst zerstört?

Allein: so pfiffig und durchtrieben sind die Diskurswächter nicht. Statt gründlich geplanter Erinnerungsfälschung ist jenes Plakat wohl nur Ausdruck von Schlampigkeit und der heute üblichen, dümmlichen Geschichtsvergessenheit. Es zeigt, wie fulminant es in die Hose gehen kann, wenn man Bilder als bloße Illustrationen mißbraucht; es zeigt auch, wie fatal und peinlich sich ein Kulturbetrieb entwickelt, in dem immer mehr viertelgebildete, schwammig herumdenkende Baccalaureaten in Entscheidungspositionen gelangen. – Und man weiß nicht, was schlimmer ist.

on the fringe in Niedersachsen

26. September 2012

Mitten in Deutschland klafft ein Niemandsland, ein flaches, stilles Nichts voller Reiterhöfe, fruchtbarer Wiesen und tiefergelegter Polos. Es ist jene Gegend, von der Politiker bis heute entgegen aller Wahrscheinlichkeit behaupten, man habe sie in den 1970ern aus rein geologischen Gründen zur Endlagerung von Atommüll auserkoren, und nicht etwa, um der DDR die heißen Kartoffeln so tief wie möglich in den Hintern zu schieben. Für den von der blasierten Urbanität der Hauptstadt gelangweilt Nichtsnutz ist dieses bundesrepublikanische Zonenrandgebiet zwischen Wolfsburg, Uelzen und Celle der beste Ort, um wieder Demut zu lernen. Ansonsten (und das zeichnet jenen Landstrich aus) gibt es von hier beinahe nichts zu berichten.

high-tech trifft low-tech, bei Ohrdorf (Landkreis Gifhorn)

Mittendrin statt nur dabei: Restmülltonnen und »fette Schnecken« auf dem alten Markt von Celle

Abendlanduntergang, im Ernst, im Scherz

21. September 2012

»Alles, was in der gegenwärtigen Lage provoziert, muß verboten werden.«

(Laurent Fabius, Außenminister der Republik Frankreich)

Mal ist man sanguinisch gestimmt, mal zornig: Vor einigen Monaten brachte Deutschlands führendes Satiremagazin auf seinem Titelblatt einen ehrverletzenden Bildwitz, der den Bischof von Rom als beidseitig inkontinenten, im wörtlichen Sinne beschissenen Winkaugust zeigte. Es mag unanständig sein, sich über die körperlichen Dysfunktionen eines senilen Gelehrten derart lustig zu machen. Zugleich aber ist jener Greis Chef und somit Aushängeschild der größten Religionsfirma der Welt, die gerade in den Kolonien mit Zynismus und Doppelmoral eine verderbliche Herrschaft ausübt, die in schamlose Geschäfte verwickelt ist und die nach allen Regeln der komischen Kunst zu verspotten und mit der Feder zu verletzen man also hinreichenden Anlaß hat. Und auch persönlich ist der alte Mann, als letzter Theokrat in einem säkularen Europa, eine schlechthin lächerliche Figur.

Zwar erwirkte der Vatikan eine einstweilige Verfügung gegen »Titanic«, zog dann aber seine Anzeige noch vor der Hauptverhandlung zurück, offenbar aus Angst, im Falle eines Freispruches Häme und Peinlichkeit noch zu mehren. Klar konnten die päpstlichen Advokaten ersehen, daß in der deutschen Richterschaft ein gewachsenes Bewußtsein davon herrscht, welchem Staatsverständnis und welcher Gesellschaftsform man die Schleusen öffnet, wenn man das Grundrecht der Meinungsäußerung irgendwelchen persönlichen Kränkungsgefühlen unterordnet. (Ganz abgesehen davon, daß Ratzinger in seiner inneren und äußeren Wagenburg die fragliche Photomontage wahrscheinlich niemals zu Gesicht bekommen hat.) – Und das nicht erst seit gestern: Bereits 1931 hob das Berliner Reichsgericht einen Schuldspruch gegen den Künstler George Grosz letztinstanzlich auf, der Jesus am Kreuz mit Gasmaske dargestellt hatte, um damit gegen die unsägliche Allianz von Kirche und Kriegswirtschaft zu polemisieren, und der darob wegen Gotteslästerung angeklagt worden war.

Schon den obersten Richtern der Weimarer Republik waren also künstlerische Freiheit und Meinungsvielfalt ein höheres Gut als »verletzte religiöse Gefühle«; schon damals gehörte es zur allgemeinen Rechtsauffassung, daß für die Zulässigkeit einer öffentlichen Äußerung in Bild oder Schrift die Frage gänzlich unerheblich ist, ob sie jemandem persönlich gefällt, ob sie jemand für ästhetisch und intellektuell wertvoll oder aber für geschmacklos und widerlich hält. Im Gegenteil: Man braucht jene Grundrechte ja erst, sobald ein Witz nicht von allen als lustig empfunden wird.

Heute hingegen sind die Zeitungen von links bis rechts randvoll mit Politikern, die in vorauseilendem Gehorsam neue »Blasphemieparagraphen« fordern, oder aber gleich ein Verbot des in Rede stehenden, moquanten Mohammedfilmches (das im übrigen harmlos ist bis zur Langeweile). Damit legen sie, nebenbei, ihre zur Gänze degenerierte Auffassung von Gewaltenteilung offen: Staatliche Stellen, bei denen Machthaber mißliebige Kulturerzeugnisse nach Gutdünken verbieten lassen können, wurden in Deutschland 1848, 1918 und zuletzt 1945 abgeschafft. Wo aber wäre, zumal in Parteien mit atheistisch-laizistischer Tradition (SPD, Linke, Grüne), der Politiker, der darauf hinwiese, daß sich monotheistische Religionsstifter, schon ihres humorlosen Pathos wegen, für die Satire hervorragend anbieten? Daß Mohammed, der Sittenstrenge verkündete, selbst aber wohl den Hedonismus bevorzugte, Ridikülisierung geradezu provoziert? Und daß seine Anhänger hierzulande (und überall sonst) auch einfach mal den Ball flach halten könnten? – Es gibt sie nicht, außer im braunen Milieu der nationalistischen Kleindenker und Fremdenfeinde.

In einer halbwegs freiheitlichen Gesellschaft ist es hinzunehmen, daß das, was einem wertvoll und heilig ist, von anderen verlacht wird. (Wem, zumal im Privatfernsehen, müßte man nicht alles den Dschihad erklären, akzeptierte man das nicht?) Kein Mitglied der Bundesregierung aber hält es für geboten, zum Gedenken an Voltaire, Heine oder Tucholsky eine Lanze für Besonnenheit, Humor und echte Toleranz zu brechen (die ja, wie an dieser Stelle schon mehrfach betont, eben nicht bedeutet, daß man etwas gutheißt, sondern nur, daß man es sein-läßt). Statt dessen überbietet sich die Herrschaft im Abspulen nichtssagender, allseitig affirmativer Worthülsen, um ja in keinen Fäkalsturm zu geraten, um von der medialen Diskurswalze nicht in den Boden gestampft (resp.: »in die rechte Ecke gestellt«) oder für das flegelhafte Rowdytum vernachlässigter Jugendlicher verantwortlich gemacht zu werden. Ganz so, als seien Islamkritik und schlechte Witze über Wüstenpropheten ein Kapitalverbrechen. – Bleibt zu hoffen, daß die mitunter noch immer erstaunlich hellsichtige Jurisprudenz in Europa ihren Prioritäten treu bleibt und uns das öffentliche Auspeitschen bei Beschmutzung des Gottesnamens noch eine Weile erspart.

»abscheulich und niederträchtig«

19. September 2012

KAIRO (dpa). Im Keller einer Videothek in einem Vorort der ägyptischen Hauptstadt wurde gestern nach Angaben des Bundesnachrichtendienstes eine verstaubte VHS-Kassette aus dem Jahr 1979 entdeckt. Darauf, so die Ermittler, habe man ein christenfeindliches Schmähvideo gefunden, das einer islamistischen Terrorzelle (Deckname: M.P.) zugeschrieben wird. Sie soll von Großbritannien aus im Untergrund operiert haben. Der Film, von dem bisher nur einzelne Standbilder (s.u.) in der Öffentlichkeit zirkulieren, erzählt in grober Verfälschung die Lebensgeschichte Jesus‘ von Nazaret. Der Heiland, so der Münchner Erzbischof Reinhard Marx, werde darin zu einer beleidigenden Karikatur entstellt, er werde »als singender Vollpfosten mit falschem Bart und Sexualleben gezeigt«, so der Oberhirte während einer Morgenandacht im Deutschlandfunk.

Das Video löste in ganz Europa wütende Proteste aus: In Warschau wurden 39 Menschen bei einer Demonstration gegen die öffentlichen Vorführung des Films zu Tode getrampelt. In Madrid erstickten zwei amerikanische Touristen, die sich mit Frischhaltefolie symbolisch selbst mumifiziert hatten. In Berlin wurden mehrere Sicherheitskräfte schwer verletzt, als sie versuchten, das ägyptische Museum gegen die aufgebrachte Masse zu schützen. Bundesinnenminister Friedrich rief die Direktoren der zoologischen Gärten in Deutschland auf, ihre Kamele und Dromedare notzuschlachten: »Wir müssen mit gewalttätigen Übergriffen rechnen und wollen keine Angriffsfläche bieten. Sicher ist sicher.« Auch wurden europaweit pyramidale Gebäude, unter ihnen das Entrée des Louvre in Paris, vorsorglich geschlossen.

Bundeskanzlerin Merkel rief in ihrer wöchentlichen Videobotschaft zur Friedfertigkeit auf. Zugleich äußerte sie Verständnis für die anhaltende Empörung: Humor habe klare Grenzen, niemand dürfe das Ansehen Jesu ungestraft beschmutzen und sein Gedenken der Lächerlichkeit preisgeben, das sei mit dem christlich-jüdischen Wertefundament der Verfassung und der CDU nicht vereinbar. Der Film müsse daher sofort verboten und das Videoband öffentlich verbrannt werden. Ein neuer Kreuzzug, so die Kanzlerin weiter, sei zur Zeit aber keine Option.

In der B.Z. äußerte unterdessen Starkolumnist Gunnar Schupelius seine Fassungslosigkeit: »Sie feixen und höhnen. Sie treten das Angesicht des Gottessohnes in den Staub. Was sind das für Menschen, denen es Freude macht, die Gefühle anderer zu verletzen? Schlimm ist das. Entsetzlich. In was für Zeiten leben wir? Ich kann das alles nicht mehr verstehen.«

In der islamischen Welt hingegen löste die biographische Travestie Zustimmung und Heiterkeit aus. Der iranische Präsident Ahmadinedschad, so berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Farce, finde den Streifen »grottencool«.

 

»Ein Dokument des Haßes« (Alexander Dobrindt)

In der Critique: »Don Giovanni« (DOB / Schwab)

19. September 2012

»Kunstwerke sind asketisch und schamlos, Kulturindustrie ist pornographisch und prüde«

(Adorno)

Unter den an deutschen Bühnen sich artikulierenden Opernregisseuren lassen sich, meiner spärlichen Kenntnis nach, zwei Gruppen unterscheiden: Die »Asketen« und die »Ausstatter«.

Der Asket wählt sich ein Werk (oder, meinetwegen, einen »Stoff«), bedenkt dessen thematisch-musikalisches Wesen, seine zentralen Konflikte und Figuren, fragt sich nach den historischen Bedingungen seiner Existenz, seiner zeitgebundenen Beschränktheit, seiner Aufführungsgeschichte und – möglicherweise – seiner gegenwärtigen Relevanz und Aussagekraft. Aus der tiefen Zusammenschau dieser Überlegungen schöpft er sodann einen persönlichen Kern, ein Anliegen, eine künstlerische Position. Er konkretisiert sie als inhaltlich-ästhetischen Stoßrichtung, als Gesamtkonzept, als schlüssiges (Bühnen-) Bild. Ergebnis dieses Prozesse ist im besten Fall ein großer, klar angelegter, bedeutungsvoller und formal schlüssiger Opernabend, souverän und sparsam in der Verwendung der musiktheatralen Mittel, von wenigen Grundsatzentscheidungen getragen. – Der hervorragendste Kunstgriff des Asketen ist das Weglassen.

Jeder, der gelegentlich im Rang der hauptstädtischen Opernhäuser Platz nimmt, weiß, daß solche wohl durchdachten, schönen Abende die Ausnahme sind. In der Regel wird man Opfer planloser, unterkomplexer Exzesse: Anders als der Asket macht sich der Ausstatter zumeist keine Gedanken, die über »Traviata = Prostituierte«, »Wozzeck = Opfer« oder »Papageno = geil, aber lustig« hinausgehen. Sein Grundnahrungsmittel ist das Klischee. Ihm fehlt das Interesse, die handwerkliche Gründlichkeit oder die gesamtkulturelle Grundausstattung, um ein vielschichtiges Kunstwerk wie eine Oper überhaupt differenziert aufzufassen.

Nicht selten möchte der Ausstatter mit einer reißerischen, anstößigen, in der Nomenklatur des Laberfeuilletons also »umstrittenen Skandalproduktion« auf sich aufmerksam und Karriere machen. Seine liebste Herangehensweise ist folglich die sog. »Aktualisierung«; seine wesentliche mentale Technik zur Klitterung seines Machwerks ist die Assoziationskette, also eine Menge gedanklicher Sprünge, die zwar semantischen Anlaß und konnotative Logik, aber keinerlei hermeneutische Präzision oder Aussagekraft haben. Der innere Schleichweg des Ausstatters lautet dann ungefähr so: Carmen → exotische femme fatale → (Rauchen ist schädlich!) → Zigeuner (darf man nicht mehr sagen) → europäische Minderheitenfrage / Migrationsproblematik (aktuell!) → Frontex (böseböse) – und dann, ja-nun: Warum lassen wir die Oper nicht in einem dieser fiesen spanischen Auffanglager in Nordafrika spielen, drehen die Geschlechterrollen um, machen aus der Protagonistin einen armen tuntigen Neger mit Lungenkrebs und zugleich (Rollenteilung, innere Zerrissenheit, Ganzwasneues!) eine schießwütige Aufseherin aus Salamanca? Auf der Bühne steht irgendwas Schiefes oder Schräges (als Analogon zu den unsicheren Verhältnissen), angemalt mit Neonfarbe, ausgekleidet mit Stacheldraht, dazu Blaulicht, trash, Nuttenlook und Müllcontainer – Touché! Oder kürzer, und immer (noch) gern genommen: Wagner → deutsch → (sehr laut!) → KZ, SS, Uniform, rumsbums, endegelände. (Das ganze Ausmaß der Verlotterung und geistigen Verwahrlosung im Kulturbetrieb zeigt sich freilich erst dann, wenn Intendanten und Dramaturgen einem Idioten, der Dergleichen vorschlägt, nicht etwa die Tür weisen, sondern ihn mit satten Produktionsbudgets ausstatten und sein Werk in ihren Pressetexten mit Adjektiven wie »originell« und »mutig« bekränzen.)

Aus der halbbewußten Ahnung seiner Überforderung durch das Werk entsteht beim Ausstatter ein horror vacui, also der zwanghafte Drang, die völlige Leere im Zentrum seines Regiekonzeptes mit allem Möglichen zu füllen, am liebsten mit dem notorisch quälendsten Ingredienz verschenkter Opernabende, nämlich dem Einfall. Einfälle sind das Gegenteil und zumeist der minderwertige Ersatz eines nahrhaften Gesamtkonzepts. Einfall verhält sich zu Konzept wie Assoziation zu Gedanke: Wer dieses nicht hat, behilft sich mit jenem, hält es dabei aber für dieses, oder versucht immerhin, es als solches zu verkaufen. Ein jäher, törichter Einfall inmitten einer halbwegs brauchbaren Inszenierung wirkt sich auf den überrumpelten Zuschauer kaum weniger verheerend aus als der der Wehrmacht in die Sowjetunion! – Allgemein gilt: Je mehr Einfälle ein Opernabend enthält, desto geringer sind Verstehenstiefe und künstlerische Potenz des Regisseurs.

Die völlige Ahnungs- und Hilflosigkeit des Austatters erkennt man beispielsweise daran, daß er seine Sänger auf der Bühne eine Zigarette rauchen, einen Apfel essen oder auf dem Boden sich herumwälzen und/oder begrapschen läßt. Überhaupt mißachtet ein solcher Regisseur die Tatsache, daß während einer Arie die Handlung der Oper stillsteht, um der musikalischen Artikulation eines punktuellen Gefühlszustandes Zeitraum zu geben. Immerfort und noch während der schwierigsten Passagen sollen die Sänger das tun, was sie am wenigsten können: Schauspielen. Niemals dürfen sie einfach nur dastehen und ihren Beruf ausüben (also: Singen). Ständig müssen Klamauk und Blödsinn getrieben, müssen schale Zoten und Altherrenfrivolitäten ins Bild gesetzt, Liegestütze gemacht, Luftballons von der Decke herabgelassen und lebende Tiere über die Bühne gejagt werden. Quantität ist Qualität, oder, einmal mehr mit Opernfreund Loriot gesagt: »es kommt immer jemand irgendwo raus!«

Mit einem solchen Haufen unmotivierter Aktionen und Effekte geht stets ein ebenso bunter und vollgeprüllter Bühnenraum einher: Der Ausstatter liebt Zeug jeder Art, Aufbauten und Requisiten, mit denen die Sänger in der von ihm auf sie übertragenen Verlegenheit herum hantieren sollen. Und wenn ihm eines Nachmittages danach ist, ohne Sinn und Verstand im fünften Akt noch einen großen Chor in period costumes zu verheizen, dann macht er es – einfach nur, weil er es kann!

Seelenort operesker Bühnenkunst: Der »Krempeltempel« in Veßra (Südthüringen), —

Sinnbildreservoir für Ausstatter …

… und Asketen!

Wozu aber hier dieses langatmige Raissonieren? – Es scheint mir kontrastierende Voraussetzung zu sein für die Würdigung einer ebenso merkwürdigen wie bemerkenswerten Produktion an der Deutschen Oper, die eben zeigt, daß auch die oben formulierte Regel ihre fulminanten Ausnahmen kennt.

Mozarts »Don Giovanni« bietet einem Austatter jeden Anlaß, ihm auf den Leim zu gehen. Und tatsächlich scheint auch an diesem Abend alles auf eine Materialschlacht hinauszulaufen: Männer in Anzügen prügeln mit Golfschlägern aufeinander ein, während die Bühne sich hebt und senkt, allerlei Masquerade und Grotesque wird aufgeboten, inclusive Leuchtschriftbändern, stählernen Weihnachtsbäumen, Contorsionsakrobatik, Violinisten mit Gastmasken, einer Jesus-Persiflage auf einem Heimtrainer, und natürlich viel prüder, s/m-koketter Pornographie (s.o.).

Ganz langsam aber sickert einem aus der orgiastischen Überfülle das Rare, Zauberhafte und Bestechende des hier Gezeigten ins Bewußtsein: Der Regisseur deutet mit seiner Inszenierung das Werk. Er mißbraucht es nicht für seine eigenen halbgaren Überstülpungen, er nimmt es nicht zum Anlaß für eine Reihe alberner Tableaus, er erstickt es nicht unter wahllosem Schnickschnack, sondern dient ihm in aller Demut eine kraftvolle, originelle und süffig Lesart an, die es zugleich entfaltet und bereichert. jede Verspieltheit fußt hier auf einem Interpretament, jede pop-kulturelle Allusion, jedes Dante-Zitat wird mit Präzision und Verantwortung gesetzt, jede Übertreibung hat ein Ziel, jeder Slapstick sitzt. Und so wirken die kleinteiligen Versatzstücke der Inszenierung nicht wie ein loses Sammelsurium, sondern verbinden und verdichten sich zu einer immer drängender werdenden Dynamik.

Aus der Trennschärfe der rhythmisch aufgehäuften und wieder implodierenden Reizüberflutung entsteht – ähnlich wie in einem Film Quentin Tarantinos – schließlich eine langanhaltende, markerschütternde Begegnung mit dem grand homme, einem der großen schillernden Helden des abendländischen Sagenkreises: Aus allem Trubel tritt er hervor und steht an der Rampe, der lebenshungrige, heilig-unheilige Herr Johannes, Archetyp des Frauenhelden und Charismatikers, Diskursberserker vom iberischen Volksbuch über Søren Kierkegaard bis zu Max Frisch. Wo Calixto Bieito an der Komischen Oper in ihm nicht mehr sieht als einen mordenden Lüstling, den er als platten, schmierigen Mafioso à la russe in einen Puff aus Plexiglas sperrt, da begreift Schwab ihn als verderblich-dialektische Geniengestalt, als hintersinnige, tragische Parabelfigur auf Eros und Thanatos, die durch den Garten der irdischen Verlockungen taumelt.

Lange noch grübelt man auf dem Heimweg nach über diesen Don Giovanni, der nicht nur ein gewissenloser Verführer ist, sondern der die Frauen (im Plural!) vielleicht wirklich liebt, jedenfalls stets und ohne mit der Wimper zu zucken bereit ist, sein Leben für ein Stelldichein herzugeben, und der die Freiheit des amourösen Rausches als gesellschaftliche Revolution und persönliche Entgrenzung erlebt, sie mit Witz gegen bornierte Besitzstandswahrung verteidigt und zugleich ihre zerstörerische Kraft, ihre Unmöglichkeit empfindet. Denn nicht nur dem Ehebruch, auch der Monogamie wohnt Grausamkeit inne: »È tutto amore! / Chi a una sola è fedele, / verso l’altre è crudele.«

Fünf von fünf Punkten; ganz großes Herrentennis.

In der Critique: Das Prinzip »Vapiano«

17. September 2012

Zu den Charakteristika unserer sog. Dienstleistungsgesellschaft gehört die Neigung der Unternehmen, personalintensiven Kundenkontakt möglichst zu vermeiden und dem Konsumenten immer mehr teure Teilmengen einer Dienstleistung oder den »Service« im Zusammenhang von Logistik und Warenwirtschaft selbst aufzubürden. Und zwar am besten so, daß er gar nicht merkt, daß er dem Unternehmen die Arbeit, für die er bezahlt, abnimmt; oder es, dank gewiefter Werbekommunikation, sogar als Aspekt von Selbstständigkeit und Wahlfreiheit, mithin als Privileg empfindet. Vorreiter solch unredlich untergemogelten outsourcings to the customer war weiland IKEA: Der Kunde soll sich anhand des Kataloges selbst beraten, selbst aufmessen, seine Möbel selbst aus dem Lager holen, schleppen, anliefern, aufbauen und (nach vier bis sechs Wochen) alle Schräubchen nocheinmal nachziehen.

Seit einigen Jahren nun weiten sich derartige Geschäftspraktiken stark aus: Immer häufiger unterhält man sich statt mit adretten Bankmitarbeiterinnen mit Multifunktionsautomaten oder »Hotlines«; die Post hat (allerdings floppende) »Packstationen« aufgestellt, um ihrem Kerngeschäft – dem Zustellen von Sendungen – nicht mehr nachkommen zu müssen; im Flugverkehr soll man neuerdings seine Bordkarte selber ausdrucken und das Handgepäck zur indiskreten Inspektion vorauseilend selber entleeren. Zu den besonderen Dreistigkeiten dieser Art zählen auch die binnen einer halben Dekade omnipräsent gewordenen Flaschenannahmegeräte in Supermärkten: Man steht bei REWE am Kottbusser Tor und wartet zehn Minuten, bis ein pfandsammelnder Tippelbruder oder ein postfeministischer kreuzberger Hausmann nebst gelungenem Nachwuchs (»Carl«) seine zwei Säcke voll Leergut in die Röhre geschoben hat, die bei der Annahme zudem wählerisch und willkürlich vorgeht und sich manchmal erst beim dritten Versuch herabläßt, eine Coladose als solche zu erkennen und schließlich zu incorporieren. (Der Hersteller dieser Geräte – ich wette darauf! – verwendet in seiner Produktbeschreibung das Adjektiv »intelligent«.) Unterstellen wir z.B. einem Geisteswissenschaftler einen Stundenlohn von 60 €, so hat er der Handelskette dadurch en passant und ohne Gegenleistung Lebenszeit im Wert von 10 € in den Rachen geschaufelt, um für 1,25 € Getränkebehälter zu retournieren. – Kapitalismus, so der hier schwer zu überbietende Frank Castorf, heißt, Erniedrigung zu genießen.

Die pfiffigste Geschäftsidee ist freilich die, der das Paradox gelingt, dem Kunden solcherlei Zumutungen nicht nur zu verschleiern, sondern als hippes Alleinstellungsmerkmal zu verkaufen. – Und damit zur heutigen Vorhölle unserer Wahl: Zu der aggressiv expandierenden Systemgastronomiekette »Vapiano«.

Man bekommt dort im Wesentlichen die Gassenhauer teutonisch rezipierter italienischer Landküche geboten, zum Teil etwas wirr und unpassend kombiniert. Der Clou des Konzeptes besteht darin, daß der Gast, statt am Tisch bedient zu werden, sich wie bei McDonald’s anstellen muß, um an einer Theke das Gewünschte in Auftrag zu geben. Längere Zeit später (va piano!) darf man sich seine Speisen dann in unkalkulierbarer Reihenfolge (zuerst die Panna cotta, dann die Nudeln) abholen.

Das Ganze hat, praktisch und atmosphärisch gesehen, nichts als Nachteile: Man steht sich die Beine in den Bauch, kann in der Gruppe zumeist nicht gemeinsam mit der Mahlzeit beginnen (weil das Essen nicht gleichzeitig fertig ist) und läuft ständig in dem hektischen, aber fesch designten Lokal hin und her. Dazu wird allerlei posiger Killefick geboten: Elliptische Nudelteller, echte Basilikumpflänzchen auf jedem Tisch, eine »gläserne Pastamanufactur«, das affektierte Gehabe der Schauköche (»front desk cooking«), die jede Portion Weißweinlachsfusilli in einem unnötig großen Wok erwärmen, dazu noch ein elektronisches Rufkästchen, das einem der Pizzabäcker codiert in die Hand drückt und das piept, sobald die Ware aus dem Ofen kommt.

Vapiano verkauft – wie Apple, und ganz im Sinne unserer totalitären Wirtschaftsweise – nicht in erster Linie ein Produkt, sondern ein elitäres, urbanes Lebensgefühl. Entscheidender emotionaler Anker ist dabei das Suggerieren echter, hochwertiger Speisen, deren Qualität dadurch beglaubigt zu sein scheint, daß man die Menschen, die sie anrichten, sehen kann. Dabei ist der Nepp perfekt: Die Küche täuscht eine rustikal-mediterrane Substantialität und Selbstgemachtheit vor, die sie in Wahrheit nicht hat. (Die Pizzabeläge, ich habe es genau beobachtet, werden eben nicht frisch zubereitet, sondern kommen als eingeschweißte Einzelportionen vom Großlieferanten.) Und daß man Pizza und Pasta nicht auf Vorrat, sondern ad hoc und portionsweise zubereitet, ist in jeder türkisch geführten Eckpizzeria im Wedding selbstverständlich, mit dem Unterschied, daß die Pizza die Hälfte kostet und schneller fertig ist.

So werden bei Vapiano normierte Industrienahrungsmittel mit der Strahlkraft des Frischen, Authentischen aufgeladen und in einem Ambiente angeboten, das distinktionsgeile Kleinstadtyuppies für den dernier-cri zu halten sich vom Zeitgeist dringend genötigt sehen. Von bauernschlauen Marketingpsychologen werden dazu die letzten Reste des 80er-Jahre-Toscana-Fetisch mit dem bis in die untere Mittelschicht herabgesunkenen Bedürfnis nach vermeintlich »natürlichen« Lebensmitteln »ohne Chemie« (R. Künast, dümmer geht immer) zu einem gesichtslosen Angebot verquirlt, das de facto das Gegenteil südeuropäischer Gastlichkeit und Esskultur erlebbar macht: un-authentischer, façadenhafter als diese kann eine italienisierende Speisegaststätte kaum sein.

Man kann eine derartige Schwindelfirma auch im größeren Zusammenhang und mit leiser Polemik einordnen. In vielen Bereichen wird die Bundesrepublik der späten DDR immer ähnlicher: Die Wirtschaft ist in wesentlichen Bereich monopolisch strukturiert, nur daß der Mehrwert der Unternehmen nicht mehr dem Volkswohl, sondern dem Aktienkapital zugeschlagen wird. Öde, uniforme Zweckbauten in Billigbauweise prägen das Bild unserer Städte. Eine verstaubte, zynische Politikerkaste beregnet uns in Endlosschleife mit propagandistischen Litaneien betreffs der wirtschaftlichen und moralischen Überlegenheit unseres Landes. Die Freiheit der Forschung, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief- und Fernmeldegeheimnis sind nicht mehr gewährleistet. – Und nun auch dieses noch: Kann es sein, daß wir den Staatssozialismus auf deutschem Boden zuerst für gefühlte 17,5 Billionen D-Mark aufgekauft und übereifrig stillgelegt haben, nur um für eine warme Mahlzeit wiederum in einer Schlange stehen zu müssen? – Wobei man damals, an deren Anfang angekommen, von grobem Unfug wie einer »Vitello-Tonnato-Pizza« immerhin verschont geblieben wäre.

Ansonsten schmeckt das Essen bei Vapiano übrigens ganz okay, ist aber bei jedem gutbürgerlichen »Italiener« in ähnlicher Güte, ohne lifestyle und pseudoauratischen Beschiß, dafür preiswerter und entspannter zu haben.

»Oh, this is so not cool!« (St. Griffin) – Einer von fünf Punkten; einmal hingehen, oder besser gar-nicht.

Herbstblätter und Nornenfäden

13. September 2012

An der Ruhr bei Essen-Burgaltendorf

Im Müggelwald bei Rahnsdorf

Zum Dürersehen nach Dresden fahren!

10. Juli 2012

»Die Kunsthistoriker sind die eigentlichen Kunstvernichter, sagte Reger. Die Kunsthistoriker schwätzen so lange über die Kunst, bis sie sie zu Tode geschwätzt haben. Von den Kunsthistorikern wird die Kunst zu Tode geschwätzt. Mein Gott, denke ich oft, hier auf der Bank sitzend, wenn die Kunsthistoriker ihre hilflosen Herden an mir vorbeitreiben, wie schade um all diese Menschen, denen von diesen Kunsthistorikern die Kunst ausgetrieben wird, endgültig ausgetrieben wird, sagte Reger. Das Geschäft der Kunsthistoriker ist das übelste Geschäft, das es gibt, und ein schwätzender Kunsthistoriker, und es gibt ja nur schwätzende Kunsthistoriker, gehört mit der Peitsche verjagt, aus der Kunstwelt verjagt, aus der Kunstwelt hinausgejagt, sagte Reger, hinausgejagt aus der Kunstwelt gehören alle Kunsthistoriker, denn die Kunsthistoriker sind die eigentlichen Kunstvernichter und wir sollten uns die Kunst nicht von den Kunsthistorikern als Kunstvernichter vernichten lassen.«

(Thomas Bernhard, Alte Meister, pp. 31)

»Es ist ein barbarischer Akt.«

(Hanno Rauterberg, DIE ZEIT)

Im Kulturkampf um die Sichtbarkeit der alten Malerei in Berlin haben sich mittlerweile einige bedeutende Feuilletonisten zu Wort gemeldet; ein offener Brief des Verbandes deutscher Kunsthistoriker und eine Petition von Jeffrey Hamburger kanalisieren die Aufmerksamkeit. Unter den Gegner der Gemäldegalerieschließung bilden sich derweil zwei Gruppen heraus: Jene, denen nur am möglichst raschen Umzug der Sammlung in ein neues Haus gelegen ist, die also die Preisgabe des Hilmer-Sattler-Baus in Kauf zu nehmen bereit sind, und jene, die den hohen Wert dieses Museums erkennen und seine Umwidmung ablehnen.

Tatsächlich ist diese strategische Opposition eine scheinbare, denn jede affirmative Haltung zum »Masterplan Museumsinsel« ist nicht nur naiv, sondern redet implizit dem Verschwinden der Kunstwerke das Wort: Wird die Gemäldegalerie im kommenden Jahr leergeräumt, werden die Gemälde auf unabsehbare Zeit den Augen der Öffentlichkeit entzogen. Und selbst im sehr unwahrscheinlichen Fall, daß plötzlich hunderte Millionen vom Himmel fallen und den alten Meistern wirklich ein neues Haus errichtet wird, läßt einen die Vorstellung des Erwartbaren mit Blick auf die ästhetische und qualitative Armut zeitgenössischer Architektur erschaudern − Worauf nämlich darf man sich freuen? Auf einen weiteren mit Stein beklebten Betonklotz in Billigbauweise, der − wie die Grimmbibliothek oder das neue »Kompetenzzentrum Archäologie« − mit faschistischer Formensprache kokettiert? Der − wie die Ensembles am Potsdamer Platz − nach wenigen Jahren eingerüstet werden muß, weil man die verlogene Façade nicht einmal ordentlich angeleimt hat? Oder auf zigfach preisgekrönte Angeberarchitektur wie die philologische Bibliothek der FU, bei der es, sieben Jahre nach der Eröffnung, massiv durch die Decke regnet?

Entgegen all diesem realexistierenden Schrott verkörpert die Gemäldegalerie eine heute vergessene Tradition solider und qualitätsorientierter öffentlicher Baupolitik. Sie nun zu Entkernen und für weit weniger bedeutende Kunst zweckzuentfremden entspricht, wie Niklas Maak treffend formulierte, dem »Umbau eines Rolls-Royce zum Gemüsetransporter«. Dabei ist es nicht nur die wertkonservative Materialität, die das Gebäude als wohl bestes altes Museum der Nachkriegszeit auszeichnet, sondern auch seine wohltuende ebenerdige Weitläufigkeit, die zum flanierenden assoziativen Betrachten und Verbinden einlädt. Ein Neubau an den Museumshöfen würde hingegen zwangsläufig mehrstöckig; wer das ebenfalls recht neue Wallraf-Richartz-Museums kennt, der weiß, wie hinderlich es der vergleichenden Kunstbetrachtung ist, sich alle paar Säle durch ein stupides Behelfstreppenhaus winden zu müssen.

Es wird, kurzum, für die alten Meister kein neues, adäquates Museum geben. Umgekehrt wäre es ein leichtes, in dieser an Brachflächen und leerstehenden Großbauten so reichen Stadt einen Ort für die Sammlung Pietzsch zu finden: Ohne weiteres ließe sich mit den bewilligten Geldmitteln beispielsweise einer der vakanten, architektonisch bedeutenden Flughäfen (Tegel oder Tempelhof) in eine hocheventöse Galerie des 20. Jahrhunderts umbauen.

Über dem Titel »Parzinger zerschmettert nicht mehr benötigte Ölschinken« hängt dieses fragwürdige Machwerk noch immer im Kopfsaal der Gemäldegalerie. Seine spärlichen Farben enttäuschen, seine theologische Aussage ist nebulös, nichts auf dem Bild vermag Auge und Geist recht zu fesseln. Zudem ist das Stück nicht fertig gemalt: Zum Rand hin ist die Leinwand fadenscheinig, der Pinsel ist grob und nachlässig geführt, der Maler hatte es offenbar allzu eilig, oder keine Lust. Und wenn das Bild auch dreist mit »Rembrandt« signiert ist, so kann doch nichts über seine qualitative Dürftigkeit hinwegtäuschen: Halbgare, depressive Dunkelbilder wie dieses will niemand sehen. Wir fordern daher: Ab in’s Depot!

So gewinnen die argumentativen Fronten Kontur: Präsident Parzinger hätte die Amtspflicht gehabt, dem Plan eines weltbezwingenden Ausbaus der Museumsinsel die Gemäldegalerie als historische Keimzelle aller Berliner Kunstsammlungen nicht so billig zu opfern; Bernd Lindemann, Direktor des Hauses, hätte die Pflicht gehabt, für die ihm anvertrauten Kunstwerke zu kämpfen und genötigtenfalls seinen Posten zur Verfügung zu stellen, so wie es jeder Provinztheaterintendant bei beschlossener Abschaffung seines Hauses getan hätte – schon und mindestens zur Erlangung eines öffentlichen Aufschreies. Wer nun dieser wendehälsischen Herren Augenwischerei erliegt und sich von leeren Versprechen und Beschwichtigungen um den Finger wickeln läßt, macht sich nicht nur zum Komplizen des museumsinsularen Größenwahns, sondern auch zum mittelbaren Totengräber des wichtigsten Museums der Stadt. Die einzig angemessene Forderung ist die nach Erhalt von Haus und Sammlung am jetzigen Orte.

http://rettetdiegemaeldegalerie.wordpress.com/

Miniaturwelt

6. Juli 2012

Wir machen es, weil’s alle machen: Wir simulieren mit einem kleinen Internet-Werkzeug ein teures Tilt-Shift-Objektiv, erhöhen den Farbwert, und haben unsere Modellbahn-Sentimentalität ein kleines Stückchen weit befriedigt.

(Schon in kurzer Zeit werden sich alle daran satt gesehen haben; bis dahin beschaue man sich den feinen kleinen Großstadtfilm »Tiny Town«)

»… rupfte man die Gaslaternen / aus dem Straßenpflaster aus«

29. Juni 2012

Unsere zivilisatorische Umgebung wird immer kälter und häßlicher; metaphorisch-sittlich zumal, aber – durch die EU-weite Ächtung der Glühlampen – auch visuell: Immer mehr ist die Menschenwelt in das blaustichige Licht von Dioden, Neonleuchtkörpern und sog. »Energiesparlampen« getaucht, die Auswirkungen dieser politisch erzwungenen, vorsätzlich bagatellisierten Revolution, insbesondere auf den Gefühlshaushalt, auf Stimmung und Biorhythmus, sind ungeklärt; fest steht hingegen schon jetzt der œkonomische und œkologische fatale Unsinn des Unternehmens, von dem einmal mehr nur die Chinesen am Ende profitieren.

Wo aber im Großen-und-Ganzen, also »in Bruxelles«, Bockmist geschaufelt wird, kann die kleine Welt vorm eigenen Gartentörchen auf Dauer nicht verschont bleiben, und so nimmt es nicht Wunder, daß das warme, gelbliche Licht der letzten Berliner Gaslaternen nun verschwinden soll, das doch so trefflich mit den gewundenen Straßen, dem alten Kopfsteinpflaster und den patinierten, efeuumrankten Villen in Dahlem harmoniert hat. Ausnahmsweise bin ich in diesem Fall nicht der einzige, der den obwaltenden Unfug eines Échauffements für Wert erachtet: Es hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, die mit einer Petition das Schlimmste zu verhindern versucht.

Ohne allzuviel Optimismus in dieser Sache rate ich nachdrücklich zu ausgiebigen nächtlichen Spaziergängen, und verweise darüber hinaus in loser Assoziation auf das Straßenlaternenmuseum im Tiergarten, das nach dem Ende des Gaslichts ins Dahlem wohl der letzte Ort in der Stadt sein wird, an dem man diese technikgeschichtliche Rarität genießen kann; und auf den schönsten Auftritt der Gaslaterne in der Literaturgeschichte, bei dem, im Rahmen einer »Poetik des Wissens« (J. Vogl), deren Vernichtung durch (freilich anders orientierte) politische Kräfte bereits eine Rolle spielt.

Zur völkischen Phantomerektion

25. Juni 2012

Abscheulich ist es, wenn, wie iust geschehen, tausende trunkener Landsleute auf einer Stadiontribüne in – of all places: – Danzig stehen, zur Camouflage ihrer ächten Gesinnung auch den linken Arm noch in die Luft strecken, und im Chor rhythmisch »Sieg« brüllen. Folgerichtig hingegen ist, daß sie dies in wohlwollender Anwesenheit der dt. Regierungsleiterin tun.

Da nachvollziehbarerweise im verkürzten bundesdeutschen Gymnasialcursus nicht alle bedeutenden historischen Ereignisse mehr vermittelt werden können, erlauben wir uns im Interesse der Volksbildung dazu den Hinweis, daß Deutschland, als es zum letzten Mal eine Partie in Danzig vom Zaune brach, darauf im Endspiel gegen die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Großbritannien, die UdSSR u. v. a. m. den Weltmeistertitel knapp verpaßt hat. Weil sich bronzezeitliche Techniken des Orakelns öffentlich wieder zu etablieren beginnen, sind wir geneigt, dies als hoffnungsvolles Omen zu deuten.

Zeiten fußballerischer Großereignisse sind stets schlimme Zeiten für die allgemeine Sprachbenutzung. Abgesehen von den schwachsinnigen Verbalfürzen der Spieler (»Wir dürfen den Gegner nicht unterschätzen«) ist es beispielsweise mindestens irreführend, eigentlich aber ehrrührig, zu behaupten, Deutschland spiele gegen Griechenland. Denn wenn auch das totum pro parte unwidersprochen zu den rhetorischen Mitteln zählt, so wollen wir doch als Eigentümer der deutschen Staatsbürgerschaft nicht mit einer Zweckgemeinschaft überbezahlter, überzüchteter Torfnasen verwechselt oder in einen Topf geworfen werden, deren einzig entwickelte Kulturtechnik das Herumhubern eines Lederballes ist. Es spielt also nicht »Deutschland«, schon gar nicht »Wir«, sondern eine tatsächlich sogenannte »National-Mannschaft«.

Bedeutender hingegen als all’ das erscheinen uns jene soziologischen Forschungsergebnisse, die neulich von einem Wissenschaftler der Universität Lüneburg im Rundfunk referiert wurden: Gar nicht baßerstaunt waren wir, dort zu erfahren, daß internationale Fußballturniere nicht (wie man aberwitzigerweise zuvor angenommen hatte) der Entwicklung von Völkerverständigung und -freundschaft dienen, sondern im Gegenteil den Patriotismus nähren und nationalchauvinistische Klischees verbreiten und zementieren, die Menschen also bösartiger und die Weltlage unsicherer machen. Eine Veranstaltung wie die Europameisterschaft fördert nicht nur die Überschuldung der beteiligten Kommunen und die Bereicherung krimineller Organisationen wie der Fußballverbände, sondern sät auch Haß und Desintegration zwischen den Völkern, was Jedermann freilich auch ohne empirische Studien, durch bloßen Augenschein, hätte ersehen können (s. o.). – Was auch sollen die armen, von uns Übermenschen zwangspauperisierten Einwohner des wunderschönen Griechenlandes empfinden, wo sie nun auch auf diesem Felde von der germanomanen Effizienzmaschine plattgewalzt worden sind? Insofern ist Lukas Podolskis einzig geistreicher Satz (»Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel«) nicht nur eine Verharmlosung, sondern eine glatte Lüge.

Gemäldegalerie Berlin † (1998-2013)

21. Juni 2012

»Besonders aber laßt genug geschehn! / Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn. / Wird Vieles vor den Augen abgesponnen, / So daß die Menge staunend gaffen kann, / Da habt ihr in der Breite gleich gewonnen, / Ihr seid ein vielgeliebter Mann.«

(Direktor, Faust I, V. 89-94)

»Wenn es so kommt, wie es sich gerade abzeichnet, dann entledigt sich Berlin einer seiner großen kulturpolitischen Probleme.«

(Stefanie Vogelsang, CDU, auf ihrer Netzseite)

»Dann lassen wir das mit der Kultur eben sein.«

(Claus Peymann, BE, in ganz anderem Zusammenhang)

Die Berliner Gemäldegalerie, hochwürdige Monstranz einer der weltweit bedeutendsten Sammlungen sogenannter »alter Meister«, ist tot. Beinahe zumindest: Heimlich, still und leise ging ein Gerücht durch die Stadt, das nun zur Gewißheit sich verdichtete hat; im kommenden Jahr wird das Museum am Kulturforum in seiner heutigen Gestalt für immer geschlossen, Wissenschaftler und Angestellte entlassen oder verstreut werden, und die Gemälde selbst verschwinden zum größten Teil für mindestens eine Generation im Depot.

Grund und Auslöser dieser ganz unfaßbaren Neuigkeit ist die in Aussicht gestellte Schenkung der Sammlung Pietzsch. Das betagte Sammlerehepaar hat die Kulturbureaucraten von Bund und Land dahingehend erpreßt, daß es seinen generösen Dienst an der res-publica mit der Bedingung verknüpfte, das überlassene Konvolut von Werken des 20. Jahrhunderts müsse dauerhaft und vollständig im räumlichen Umfeld der Neuen Nationalgalerie, am Kulturforum also, ausgestellt werden.

Hinter den Kulissen, wie stets in der Demokratur, ist heftig gestritten und gemauschelt worden; die Kunstsinnigen und Verständigen, so hört man, hätten sich bitter gewehrt, bis schließlich der Kulturstaatsminister selbst eine Entscheidung erzwungen habe, die dann so geschickt, tröpfelnd und in Watte gepackt der Öffentlichkeit verabreicht (heute sagt man: kommuniziert) worden ist, daß kaum jemand ihre schreckliche Breite und Tiefe recht aufgefaßt zu haben scheint.

Ergebnis des mafiösen Hinterzimmergeschäftes ist eine von der Bundesregierung euphemisierend als »Museumsrochade« umgelogene Vernichtung gewachsener altkultureller Substanz und Struktur: Die Gemäldegalerie soll ab dem kommenden Jahr geschlossen und mit den nun bewilligten Kleckermitteln von 10 Millionen Euro zu einem Museum für Kunst des 20. Jahrhunderts umgebaut werden. Nur ein kleiner Teil der prachtvollen Bestände soll während der kommenden Jahrzehnte auf der Museumsinsel gezeigt werden, für mehr wäre auch, selbst mit einer »Petersburger Hängung«, kein Platz. Entweder also werden viele der heute lebenden Kunstliebhaber und -kenner diese Schätze nie mehr zu Gesicht bekommen, oder das Bode-Museum wird magazinartig vollgestopft: Giotto kommt ins Treppenhaus, Rembrandt hinter die Garderobe, und Caravaggio naheliegenderweise aufs Herrenklo.

Gegenüber dem Bode-Museum, auf der anderen Seite des Kupfergrabens, soll dann irgendwann einmal ein Neubau für die Bestände der Gemäldegalerie errichtet werden, der, im Sinne des alten Bodeschen Gedankens, die Kunstwerke des Mittelalters und der »frühen Neuzeit« gattungsübergreifend zusammenführt, wobei das Bode-Museum den süd-, und der fragliche Neubau den nordalpinenen Raum abdeckt. Für jenes neue Gebäude aber gibt es weder Konzept noch Zeitplan, keinen Wettbewerb, noch gar eine einzige müde Mark zu seiner Errichtung. Wage Einschätzungen aus gut informierten Kreisen halten eine Eröffnung nicht vor 2030 für möglich. – Dann endlich wird im Erlebensfalle zu bestaunen sein, was schon Wilhelm II., Hitler und Kohl feucht sich erträumten: Der größte Museumskomplex aller Zeiten! Denn selbstverständlich folgt die finale Akkumulation aller Kunst vor 1900 auf der Museumsinsel dem ebenso megalomanen wie unausgesprochenen Ziele, sich mehr als zweihundert Jahre nach der Verschleppung der Quadriga durch Napoleon am Erbfeind schadlos zu halten, den Endsieg zu erringen und also den Louvre in der Größe seiner Bruttogeschoßfläche und der Zahl seiner Exponate zu überbieten.

»Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen« – der Bildungsbürger in der Musen Wandelhallen war stets eine einsame, ereignislose Erscheinung

Sicherlich ist nichts bräsiger als eine kulturpolitische Neuauflage der »Querelle des Anciens et des Modernes«, ein Ausspielen alteuropäischer Gemälde im edlen Rahmen gegen das bunte Panorama einer wie-auch-immer verklammerten Moderne. Sicherlich auch braucht Berlin dringend ein angemessenes »Museum des 20. Jahrhunderts«, schon damit die Sichtbarkeit der reichen Bestände der Nationalgalerie nicht mehr von den eitlen Launen eines Udo Kittelmann abhängt, auch um jene Werke aus dem zur Kunstbetrachtung schlechterdings ungeeigneten Keller des Mies van der Rohe-Baus zu befreien. Notwendig wäre ein von Grund auf neues Haus für die Kunst der letzten 120 Jahre, ein Analogon etwa zum »Centre Pompidou«. (Bester Standort hierfür wäre freilich das Kulturforum selbst, also jenes von der Potsdamer Straße zerschnittene, platzunähnliche Niemandsland zwischen Staatsbibliothek, Philharmonie und Matthäikirche, das heute der stadtplanerischen Vision einer »Museumsinsel des Westens« so bissig spottet.)

Die Gemäldegalerie selbst als genuin konservativer Museumsbau der Hilmer-Sattler-Schule wurde für die Präsentation altmeisterlicher Malerei, für diese Sammlung im Besonderen, geschaffen; weder atmosphärisch noch praktisch eigent er sich für zeitgenössische Kunst. Er mag für Flachware von Cézanne, Picasso oder Warhol noch umzubiegen sein, erscheint jedoch für Großskulpturen und Monumentalmalerei etwa von Beuys, Kiefer oder Pollock als ganz ungeeignet. Alptraumhaft ist die Vorstellung jener innenarchitektonischen Vergewaltigung der Säle und Kabinette, die in dem Wahn verbrochen werden wird, den heterogenen Medien, Formaten und Materialien der gewünschten Exponate irgendwie zu entsprechen; es ist, als würde man eine Porzellansammlung in einer Turnhalle ausstellen, und am Ende wird es wieder nur ein weiteres white cube.

Was aber steckt dahinter? – Niemand kann sich Illusionen über das Fehlen jedweden Kunstsinnes in den höheren Sphären der Politik gemacht haben. Früher hätte man besonders die Sozialdemokratie der programmatischen Geringschätzung sog. Hochkultur verdächtigt, weil doch das Anschauen, Verstehen und Lieben solcher Güter stets elitär und niemals sozial ist. Folgerichtig ist unter der Schirmherrschaft von Klaus Wowereit jede greif- und machbare Häßlichkeit, seien es Verkehrsgroßprojekte, Shoppingcenter, Hotels, Regierungs- und Verwaltungsbauten, in Beton geklotzt worden, während die Theater, Opern, Museen und Universitäten bis an den Rand der Ohmacht zur Ader gelassen wurden. In Zeiten des (Kabinetts) Merkel aber, des widerlichsten je dagewesenen Haufens von Geistfeindlichkeit und Ignoranz, gelten solche politischen Richtungszuschreibungen nicht mehr. Man kann sich keine Menschenzusammenrottung vorstellen, der man auf dem Felde von Kunst und Kultur weniger Urteil und emotionale Verbundenheit zutrauen würde, die aus ihren versteinerten, vom Bildungsneid zerfressenen Herzen heraus größeren Haß auf alles Schöne und Wahre entwickeln könnte, das doch zwangsläufig ihre eigene ästhetische wie moralische Nichtswürdigkeit bloßstellt.

Ist also der Pragmatismus ein Nihilismus? Pas-du-tout! – Der Schwachsinn hat Methode, wie der Kulturbetrieb im Bereich der klassischen Musik eindrucksvoll und verbindlich vorgeführt hat. Dort kann man beobachten, wie sich die Formen der Kunstproduktion und -vermittlung ändern, wenn konsequent auf events gesetzt und dafür kontinuierliche, bewahrende Institutionen aufgelöst werden. Schöne Cellistinnen, russisch-rassige Klaviervirtuosen, »große Namen«, Zauberflöte im U-Bahnhof, Wagner in Tel-Aviv, Carmen auf der Seebühne oder vielleicht in Neucölln: All’ das geht gut und läuft immer, weil’s was Besonderes ist, weil man dabeigewesen sein kann. Wer braucht da noch Förderung für Schulchöre, musikwissenschaftliche Forschung oder gar – horribile dictu – die Detmolder Symphoniker?

So entlarvt es die Zeichen der Zeit auch im Bereich der bildenden Kunst, wenn Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, im Deutschlandfunk nach den oben beschriebenen Vorgängen befragt, immer wieder auf die Ausstellung »Gesichter der Renaissance« verwies, die doch gezeigt habe, daß das Publikum (um das es ja geht) auch für vorkubistische Kunst noch zu gewinnen sei, wenn’s nur als Spektakel behauptet, auratisch inszeniert, an der Kasse verknappt und exzessiv vermarktet wird. Die Gemäldegalerie, und dafür liebten und lieben wir sie mit nun tränenden Augen, ist ein Anti-Event. Sie ist fast immer angenehm spärlich besucht, bewirbt sich nicht, agiert ausschließlich aus dem Bewußtsein ihrer konkurrenzlos hohen Qualität, und damit ganz außerhalb des Zeitgeistes; abgesehen davon, daß neun von zehn Museumsbesucher sowieso lieber Pipilotti Rist und Georg Baselitz anschauen als Raffael und Dürer; denn alte Kunst hat keine Lobby und nur wenig Freunde.

Womit denn alles wieder seine unheimliche Stimmigkeit und der herrschende Geist sich wieder als Geist der Herrschenden und der rezenten Zeit offenbart hätte. Bemerkenswert bleibt das weitgehende Schweigen der Qualitätspresse, die sich jede spaltenübergreifende Empörung bis heute versagt hat. Springers Kettenhunde, die sonst jeden Kahlschlag in Westberlin sentimental und demagogisch bejaulen, haben auch nichts zu sagen, da es zum einen ihre eigene nun ganz geschichtsvergessene CDU ist, die dieses Verbrechen beging, und da’s zum andern gerade ihrer Leserschaft alles vollkommen wurscht sein darf.

Tatsächlich hat kein Schreiberling der hundsföttischen Hauptstadtpresse bis heute das Spitzen seiner Feder für nötig befunden, um diesem angenehmsten, sensibelsten und bestgebauten Berliner Museum einen Nekrolog zu widmen, um einen wehmütigen Trauermarsch zu komponieren auf seine wunderbar farbigen Wandbespannungen, seine bequem-gerundeten Holzbänke, sein feines Parkett, die Bekömmlichkeit seines Klimas, den Luxus des großen, wohlproportionierten Atriums, schließlich auf seine Freiheit von preußisch-nationalistischer Kontamination – auf ein Museum kurzum, das den in ihm geborgenen Schätzen aus über 500 Jahren abendländischer Bildkunstgeschichte diente wie ein im besten Sinne altmodischer Kammerdiener seiner Herrschaft: mit harmonisch-selbstbewußter Subordination, aufmerksam, verläßlich und dezent.

Offizieller Widerspruch, auch von Seiten der wohl schockgefrorenen Museumsleute und des kunsthistorischen Establishments, bleibt bisher aus. Unter den Mitarbeitern am Kulturforum, die ihrer baldigen Kündigung entgegensehen, herrscht, wie man hört, nackte Panik. Angemessener Widerstand regt sich unterdessen auf studentischer Seite: Eine Doktorandengruppe des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität bläst zum Skandal und hat eine Netzplattform gegründet; geplant sind Demonstrationen, renitente Öffentlichkeitsarbeit und eine große Sommerauktion, bei der die Werke der Gemäldegalerie »unter Ramschniveau« (Hans-Werner Sinn) verschleudert werden sollen. So billig wie möglich, denn alles muß raus.

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