»Die Politik ist zum Tummelplatz verkommen für machtambitionierte Opportunisten und Schaumschläger.«
(Michael Schmitz, DER SPIEGEL 35/2012)
–
»Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein.«
(Bertolt Brecht, Dreigroschenoper)
–
Zweiundsechzig Prozent der bundesdeutschen Einwohner sind nach jüngster Umfrage irgendeiner Qualitätsillustrierten der Meinung, Bundeskanzler Merkel gehe es bei seiner Arbeit »vor allem um Deutschland«. Hätte die gleiche Menge der Behauptung zugestimmt, die Erde sei eine Scheibe, der Mond aus grünem Käse, und es schneie hierzulande vor allem im August, man wäre nicht weniger erstaunt. – Was fängt man an mit einer derart krassen und niederschmetternden Fehleinschätzung? Nimmt man sie als neues Indiz für die alte Überzeugung, daß die Mehrheit eben niemals im Recht ist?
Im Jargon der Uneigentlichkeit
Zunächst ist der ebenso perfiden wie effektiven Arbeit des Regierungspresseapparates Anerkennung zu zollen, dem es unter Aufbietung aller Nebelkerzen und psychologischen Tricks stets gelingt, das Gegenteil dessen, was der Fall ist, in die öffentliche Aufmerksamkeitsökonomie einzubetonieren. Ergebnis ist das mediale Trugbild einer fiktionalen Kanzlerin, die sich kümmert und sorgt, die sich ihrer Verantwortung stellt und für das Wohl ihrer Mitbürger kämpft, und zwar auf Grundlage emotionaler Grundzustände wie Engagement, Trotz, Konsequenz und Anteilnahme.
Wie der klarsichtige Beobachter hingegen erkennen darf, geht es Angela Merkel bei ihrer »Arbeit« tatsächlich um nichts anderes als um die nächste Wiederwahl. Anders gesagt: Grund, Sinn und Endzweck der Kanzlerschaft Merkel ist allein die Kanzlerschaft Merkel. Noch anders (und unfein) gesagt: Das einzige, was Merkel von früh bis nachts als Leitstern allen Denkens und Handelns erscheint, ist die Hängung ihres eigenen Arsches.
Nichts hat dieser Regentin je »am Herzen gelegen«; zumal jenes Organ bei einem derart roboterhaft erscheindende Wesen ohnehin nur als Blutpumpe, nicht aber als Metaphernspender fungieren kann. Ihr Handeln ist getrieben von einem einzigen rückenmarkgesteuerten Instinkt: von der Angst vor Machtverlust. Diese Angst determiniert alle Strategien, Entscheidungen und Sprachregelungen. Wenn man Aufzeichnungen ihrer öffentlichen Reden betrachtet, beschleicht einen kalt die Zusammenhanglosigkeit von Sprecher und Gesprochenem: Daß sie kaum je etwas Nahrhaftes oder Kluges gesagt hat, unterscheidet sie nicht von anderen Spitzenpolitikern; das Gespenstische an Merkel ist die vollendet geglättet Façadenhaftigkeit ihrer Äußerungen. Routiniert repetiert sie die von ihren Zuarbeitern ausgefeilten Floskeln, ohne irgendetwas im Wittgensteinschen Sinne je zu meinen, ohne das geringste persönliche Interesse am Inhalt der sie verlassenden Worte. Oft hat man ihre Vortragsweise als langweilig und teilnahmslos kritisiert; tatsächlich erscheint sie als vorbildliches Beispiel barock-neomachiavellistischer Rhetorik: Der politische Redner beherrsche (a) die Kunst, möglichst viel zu reden, ohne dabei etwas zu sagen; (b) falls er etwas sagt, sei es niemals die Wahrheit; (c) er erscheine dabei als einfühlsamer, gütiger Mensch, halte aber (d) die Aussagen seiner Rede möglichst weit von der eigenen Person entfernt; sollte es (e) Unerfreuliches mitzuteilen geben, schicke er seinen Stellvertreter. – Diesen Grundsätzen gemäß lautet die oberste Parole des herrschenden Regimes: Es darf alles gesagt werden, außer der Wahrheit. (Was einem dräut, der diesem Gebot nicht gehorcht, konnte man trefflich am Fall des naiven Herrn Köhler besichtigen, der über die banal-evidente Feststellung, Deutschland führe Krieg nicht aus Bonhomie, sondern zur Sicherung seiner Wirtschaftskolonien und Rohstoffrouten, seines Amtes verlustig ging.) – Daß Merkel sich dabei nicht einmal bemüht, den Inszenierungscharakter ihrer prinzipiellen Falschheit zu vertuschen, ist wahlweise der Gipfel demagogischer Raffinesse, oder aber der methodische Kern jenes degoutanten Skandalons, das ihren Namen trägt.
Das Vakuum der Macht
Es ist fatal oder wenigstens jammerschade, daß ein schönes und in vielen Hinsichten reiches Land wie Deutschland von einer Machtmaschine regiert wird, die außer dem Selbsterhalt keine politischen Ziele, keine Weltanschauung und keine Werte hat. Es hat diesen Zustand in keinem deutschen Staatskonstrukt je gegeben. Alles außerhalb des eigenen Status und der taktischen Winkelzüge zu seiner Perpetuierung ist Merkel egal; genauer: zur Gänze gleich-gültig, wie sich an der Beliebigkeit, Inkohärenz und Widersprüchlichkeit ihrer Entscheidungen ebenso wie an deren faktischer asozialer Bösartigkeit eindringlich und offensichtlich ablesen läßt.
Ob ihre Minister lügen und betrügen; ob Geheimdienste neonazistische Mörderbanden protegieren; ob junge Hauptschüler als Kanonenfutter nach Afghanistan verbracht werden; ob die Arbeits- und Familienursel eine »Akademikerinnenwurfprämie« (V. Pispers) auslobt und im gleichen Abwasch ein »Betreuungsgeld« installiert wird, das die Emanzipation der Frauen verhöhnt und hintertreibt und zugleich garantiert, daß das Souterrain der Gesellschaft weiterhin bildungsfrei und kontrollierbar bleibt; ob Siemens/Krauss-Maffei immer mehr schweres Gerät zur Aufstandsbekämpfung an arabischen Marionettenfürsten liefert; ob ein Georg Klein in den Generalsrang erhoben wird, weil/obwohl er 91 Zivilpaschtunen wegen Treibstoffdiebstahls plattbomben ließ; ob Atomkraftwerke laufen oder nicht – alles das (und alles andere) hat Frau Merkel niemals auch nur für einen Moment interessiert.
Das einzige, was sie aus naheliegenden Gründen obwalten sehen will, ist der marktwirtschaftlich-alternativlose Sachzwang, der wesentlich in der andauernden Umverteilung von unten nach oben, in Normierung und Kontrolle, vor allem aber in der Ausweitung und Alleinstellung der rezent-autoritären condition humain und ihrer traurigen Tetrarchie – Vereinzelung, Verängstigung, Verschuldung, Verdummung – besteht.
Wahrscheinlich aber stimmt nicht einmal das: Wahrscheinlich betreibt Merkel nicht einmal den zerstörerischen Wahn spätkapitalistischer Entfremdung wirklich mit Eifer und aus Überzeugung, sondern nur, weil ihre Partei und deren Financiers es so erwarten. Genauso gut könnte sie einer faschistischen oder pseudosozialistischen Regierung vorstehen; sie müßte weder ihr Kabinett noch ihren Stab oder ihre Sprechweise austauschen, sie würde es wohl nicht einmal merken. Jüngst wurde in einem vermeintlich »kontroversen« Buch über Merkel behauptet, ihr Führungsstil verrate ihre politischen Lehrjahre in der DDR und sei dem Honeckers ähnlich. Diese Behauptung ist verleumderisch und falsch: In keinem Kabinett der DDR waren Ahnungslosigkeit, Korrumpiertheit, Volksfernde und Nepotismus derart akkumuliert wie in der heutigen Bundesregierung. Honecker mag, wie Merkel, als dröger Spießer und trockener Schleicher erscheinen, als vollendeter Bureaucrat, der sich in der Arroganz der Macht verschanzte. Im Unterschied zu Merkel aber verfügte Honecker über eine, wenn auch realitätsentfernte, Vorstellung einer besseren Welt, über ein Menschenbild, und über Werte und Ziele jenseits der eigenen Machtsicherung. Mehr noch: er ist für diese Überzeugungen Risiken eingegangen und hat persönliche Opfer gebracht (Gestapo-Zuchthaus Görden 1937-45). Angela Merkel, das bezeichnet sie mehr als alles andere, hat noch nie für etwas außer sich selbst gekämpft, sie hat nie unpopuläre oder gar gefährliche Ansichten geäußert oder ihre gluteale Bequemlichkeit auch nur einen Moment aufs Spiel gesetzt. Wo bei Honecker der biedere und späterhin so schamvoll geplatze Traum des kleinbürgerlichen Staatssozialismus wesenhaft weltanschaulich waltete, findet man bei Merkel nur: Leere. (Nachvollziehbar ist oben erwähnte Engführung bestenfalls insofern, als Merkel, mindestens symbolisch, einen durch und durch stalinistischen Habitus von Gefolgschaft, Loyalität und Personalbereinigung praktiziert. Selbst Stalin aber hätte einen Molch wie Ronald Pofalla in seinem engsten Umfeld wohl keine drei Tage ausgehalten.)
Staatstheorie und Ekel
Die Ursache des Ersten Weltkrieges bestand, nach einer bekannten Einsicht Karl Kraus’, nicht in den geopolitischen oder ökonomischen Verhältnissen der Zeit, sondern in einem »Mangel an Phantasie« seitens der Entscheidungsträger. In diesem Sinne haben wir bis heute nichts als Glück gehabt: Man stelle sich vor, Deutschland würde von einer echten Naturkatastrophe, einer Epidemie oder anderen biblischen Schrecknissen heimgesucht, oder von Afghanen, die konsequenterweise kämen, um die Freiheit ihres Landes an Harz und Hundsrück zu verteidigen; – wie ätzend würde dann der herrschende Mangel (die Mangel?) offensichtlich, wie dringend nötig wäre dann ein politischer Republikvorsitzender, der nicht nur im zoologischen, sondern im emphatischen Sinne als Mensch anzusprechen wäre, und der das Geschick der ihm anvertrauten Menschen lenken könnte, mit Gewissen, Charakter und intuitivem Kompaß? Wären einem in solchem Falle nicht sogar Übeltäter wie Berlusconi oder Sarkozy lieber, von denen man immerhin weiß, daß sie menschlicher Regungen, wenn auch der niedersten, überhaupt fähig sind?
Während also im Kanzleramt weiterhin ein geschlechts- und seelenloses Stück fleischgewordener Machtgeilheit alle Fäden in der Hand hat, ein Biotop, das lügt, sobald es die Luft mit Phonemen erfüllt und das jedem Sachverhalt mit der Fratze des pragmatischen Nihilismus begegnet, stellt sich die Frage, wie man die herrschenden Verhältnisse überhaupt politologisch einordnen kann.
Leben wir in einer Demokratie? – Demokratie besteht dann, wenn der Wille des Volkes Gehör findet. Die Mehrheit hierzulande spricht sich gegen deutsche Kriegsbeteiligung aus, gegen Rüstungsexporte, gegen Zwei- oder Dreiklassenmedizin, gegen staatlich sanktionierte Verarmung und »Leiharbeit«, gegen Steueramnestien für Großverdiener, mittlerweile sogar gegen eine allzu freie Marktwirtschaft. Und obwohl Parteien zur Wahl stehen, die alles dies programmatisch verhindern wollen, wählt das Volk seine Zuchtmeister und Ausbeuter in freier und geheimer Wahl immer wieder selbst. Wie ist so grenzenlose Dämlichkeit erklärbar?
Die triftigste Ursache der kollektiven Verirrung – das ist eine Binse – liegt in der massenmedialen Lenkung. Eine »Zensur« (Grundgesetz) findet nicht institutionell, sondern faktisch statt, indem relevante Informationen nur noch in telephonischen Kurzmitteilungen, Hinterzimmergesprächen und Exclusivinterviews verbreitet werden, an denen wiederum nur jene Journalisten teilhaben, die sich durch allenfalls scheinbar kritische Hofberichterstattung empfehlen. Die Bevölkerung wird von Springer und Compagnons mit »Angst, Haß, Titten« (F. Urlaub) und antikommunistischer Desinformation klassisch-bundesdeutscher Prägung gemästet, bis sie Dieter Bohlen als einen »Pop-Titan« und jeden, der die gegenwärtige Wirtschaftsordnung nicht für die einzig mögliche und alleinseligmachende hält, als einen Spinner und »linken Chaoten« ansieht. Eine freie politische Willensbildung findet nicht statt; – handelt es sich also um einen schlechten Kalauer, um eine Mediokratie, um die Herrschaft des medial konsensfähigen Mittelmaßes?
In einer Monarchie, Tyrannei, Despotie oder Diktatur immerhin leben wir nicht, denn dafür bräuchte man einen Monarchen, Tyrannen, Despoten oder Diktator, und derart auratische, kraftvolle Titel sind – im heutigen wie im antiken Sinne – für der/die/das Merkel schlechterdings und augenscheinlich unvorstellbar. Plutokratie herrscht unterdessen sicherlich, aber wann seit der Bronzezeit wäre die je das Spezifikum einer einzelnen Epoche gewesen? – Wahrscheinlich haben wir also die (nach Aristoteles) schlimmste aller möglichen Staatsformen erwischt: Die Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels.
Die Leitkategorie des politischen Barock ist nicht bunte Verschwendung, Pornographie, billige Inszenierung oder Schwindelrede, sondern das Obszöne schlechthin. Und obszöner könnte die Lage nicht sein: Wie werden wir unseren Kindern erklären, daß wir zwar Bioobst gekauft und ZEIT gelesen haben, zugleich aber die Leitung des marktwirtschaftlich-politischen Zusammenhanges der geist-moralischen Unterschicht, dem übelsten Geschmeiß des Universums, überlassen haben? Wie kann man sich überhaupt in die Augen sehen in der Gewißheit, daß man auch nur einen Tag ohne aggressive Gegenwehr eine Regierung toleriert hat, der z. B. Kristina Schröder angehört? Ein Mensch, der nicht einmal als seine eigene Karikatur zu gebrauchen ist, ein Artgenosse, der auch ohne Polemik dumm ist wie Toast? (Nicht etwa dumm wie Lieken-Urkorn-Toast, sondern dumm wie weißer, angelsächsischer Sandwich-Toast ohne Rinde, solcher nämlich, der sich pro Standartgebinde mit kleinstem Muskelaufwand mühelos auf die Breite der Reclamausgabe von Theodor Storms »Schimmelreiter« zusammendrücken läßt.)
Man sollte in solchen Zeiten (wie neulich ein Familienmitglied sehr hübsch bemerkte) eben beides können: ins Klo greifen und nach den Sternen! Praktisch hieße das: man bestelle sämtliche Presseerzeugnisse ab, schalte das Radio aus und gehe in die Oper, in den Zirkus, oder in die innere Emigration.